Lügenpresse

Der im Pegida-Umfeld gebrauchte Begriff „Lügenpresse“ wurde zum Unwort des Jahres 2014 gewählt. Die Jury begründete ihre Wahl so:

„Die Tatsache, dass die sprachgeschichtliche Aufladung des Ausdrucks (Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus) einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen, die ihn gezielt einsetzen.“(1)

Und weiter: „Mit dem Unwort des Jahres wollen die Sprachkritiker auf undifferenzierten, verschleiernden oder diffamierenden öffentlichen Sprachgebrauch aufmerksam machen und so die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern.“(2) Halten wir also fest; der Begriff „Lügenpresse“ ist gewählt worden, weil ihn a) die Nationalsozialisten auch verwendet haben, er b) undifferenziert und verschleiernd ist und man c) die Bevölkerung sensibilisieren will, damit sie nicht einfach grundlos und böse diffamiert. Wir verstehen natürlich das Argument a) vollständig. Ein Begriff der von den Nazis benutzt wurde, kann nur abgrundtief böse und schlecht sein. Ein anderes Beispiel wäre der Begriff „entartete Kunst“, der ebenfalls nicht mehr gebraucht werden darf, weil – siehe oben. Dabei spielt es auch überhaupt keine Rolle, ob der Begriff von einem Juden wie Max Nordau geprägt wurde, der Ende des 19. Jahrhunderts „angesichts der beginnenden Auflösung der Bildgestalt“(3) in zeitgenössischen Bildern von „Entartung“ sprach. Genauso verhält es sich mit der „Lügenpresse“. Es ist irrelevant, ob an dem Begriff etwas dran ist oder nicht. Die Nazis haben ihn verwendet, somit ist er unsachlich und schlecht. Bei Punkt b) beschleicht einen das Gefühl, dass der gemachte Vorwurf auf das “Unwort des Jahres“ Gremium zurückfallen könnte. Geht man einmal die Liste der „Unwörter“ durch, so beschleicht einen das Gefühl, dass das Gremium politisch nicht ganz unabhängig ist und mit der Ernennung eines „Unwortes“ auch politische Ziele verfolgt: Nämlich die Benutzer der „Unwörter“ undifferenziert ins politische Abseits zu stellen.
Aber wir fügen uns für einmal dem fünfköpfigen Gremium der Sprachtscheka, zeigen uns c) sensibilisiert und differenziert und greifen nicht einfach zum verbalen Zweihänder der „Lügenpresse“, sondern analysieren einen Artikel aus der Neue Luzerner Zeitung(NLZ) sine ira et studio.

Unter der Überschrift „Er spaltet die französische Gesellschaft“(4) erklärt uns der Frankreichkorrespondent der NLZ, Stefan Brändle, dass der französische-kamerunische Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala, der wegen „Terrorverherrlichung“ (NLZ) vor Gericht steht, sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen kann, wie dies etwa das Satiremagazin Charlie Hebdo tut. Das Gesetz, gemäss welchem Dieudonné angeklagt wurde, heisst in Frankreich „Apologie du terrorisme“. Aber warum wurde der antizionistische Komiker M’Bala M’Bala überhaupt angeklagt? Lesen wir dazu in der NLZ:

„Als der Attentäter Ahmed Coulibaly im Januar nach dem Terrorangriff auf das Satireblatt „Charlie Hebdo“ in einem jüdischen Supermarkt in Paris Geiseln nahm und vier von ihnen erschoss, twitterte Dieudonné: „Je suis Charlie Coulibaly.“ Der Humorist mit dem dämonischen Grinsen kam wegen „Terrorverherrlichung“ in Untersuchungshaft, dann auf die Anklagebank.“

Damit wären wir also über den Sachverhalt vollumfänglich informiert. Der schwarze Humorist, in dem wohl irgendein Dämon seinen Sitz hat (oder woher hat er wohl sein „dämonisches Grinsen“?) hat sich mit seiner Aussage „Ich bin Charlie Coulibaly“ mit dem Terroristen gleichgesetzt, der vier Juden ermordete.
Aber Moment mal, irgendwie hat man doch schon mal was anderes gelesen. Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass der Satiriker das so gar nie gesagt hat, wie uns der Artikel in der NLZ weismachen will. Er sagte nämlich nicht „Je suis Charlie Coulibaly (Ich bin Charlie Coulibaly)“ sondern „Je me sens Charlie Coulibaly (Ich fühle mich wie Charlie Coulibaly“. So schreiben es auch französische Zeitungen, die sich aufgrund der fehlenden Sprachbarriere wohl etwas präziser ausdrücken müssen und selbst der Blick ist fähig, Dieudonnés Worte korrekt wiederzugeben.(5)
Der Lüge soll hier deshalb niemand bezichtigt werden, das war wohl einfach nicht ganz sauber zitiert. „Je me sens…“ oder „Je suis…“, das ist lediglich eine unachtsame Verwechslung von ein paar Buchstaben… Das Problem ist, dass der Satz so einen ganz anderen Sinn bekommt. Was Dieudonné ausdrücken wollte, dürfte wohl etwa in diese Richtung gehen: Er fühlt sich als Komiker/Satiriker mit dem Magazin Charlie Hebdo verbunden, das Opfer eines Terroranschlages wurde. Deshalb schrieb er von „Charlie Coulibaly“. Der Attentäter im Supermarkt hiess bekanntlich Ahmed und nicht Charlie. Weil der von der französischen Justiz mit Klagen überhäufte und von der Politik diabolisierte Komiker sich ab und zu auch wie ein Terrorist behandelt fühlt, wählte er den Namen des Terroristen Coulibaly. Die Aussage „Je me sens Charlie Coulibaly“ könnte man dann in etwa so interpretieren: Ich fühle mich wie ein Satiriker (Charlie) der wie ein Terrorist (Coulibaly) behandelt wird. Aber so viel Differenziertheit kann sich die NLZ wohl aufgrund von Platzmangel nicht erlauben.

Der Autor des NLZ Artikels klärt dann über die Geschichte der französischen Satire auf. Diese „muss nicht unbedingt humorvoll sein. Dafür subversiv und schamlos.“ Das ist ganz offensichtlich der Fall. Ich finde nämlich weder Charlie Hebdo noch Dieudonné lustig. Die Rechtfertigung des französischen Satirikers liege darin, so Brändle weiter, dass er für die Freiheit des Denkens kämpfe. „Und da Freiheit einhergeht mit der Gleichheit und Brüderlichkeit, kämpft er auch für die Schwachen, Armen, Kleinen, die Underdogs und die Outlaws. Das republikanische Gesetz, nicht das Strafrecht ist ihm heilig.“ So weit so gut. Nun kommt aber der Pferdefuss. Dieudonné verletze aber die republikanische und somit die menschliche Ordnung, wenn er Juden aufs Korn nähme. Man reibt sich verwundert die Augen. Hier wird durch den Autor einfach eine Feststellung getroffen, die er mit nichts bewiesen hat. Wieso verstösst es denn nun gegen die republikanische Ordnung, Juden aufs Korn zu nehmen, nicht aber wenn Christen und Moslems zum Ziel des Spotts werden? Müsste im Sinne der Gleichheit nicht jeder Zielscheibe des Spottes werden dürfen? Zudem: Ist denn die gesetzliche Ordnung nicht auch eine menschliche Ordnung. Ist die Französische Republik menschlich, während das französische Strafrecht unmenschlich ist? Oder wollte der NLZ Autor eigentlich schreiben, die Republik sei die göttliche Ordnung, während das Strafrecht nur menschliche Ordnung sei? So würde es wenigstens Sinn ergeben, dass das eine (republikanische Ordnung) nicht angetastet werden darf, während das andere (Strafgesetz) den Satiriker nicht zu kümmern hat. Wir sind verwirrt.
Für Brändle ist aber ganz klar: „Darin liegt der entscheidende Unterschied. „Charlie Hebdo“ pocht mit seinen Mohammed-Karikaturen auf die Denkfreiheit, ist aber nie islamophob. Dieudonné ist hingegen ein Antisemit.“ So einfach ist das. Dabei ist er offenbar voll auf der Linie von Premierminister Manuel Valls, der meinte, es gäbe einen fundamentalen Unterschied zwischen „Freiheit zur Frechheit und Antisemitismus“ (NLZ). Ein unlustiges, nur auf Provokation getrimmtes, linksradikales Blatt wie Charlie Hebdo kann auf alles spucken, was anderen heilig ist, kann den Propheten Mohammed in despektierlicher Pose darstellen, kann die heilige Dreifaltigkeit beim Analverkehr darstellen, kann den Papst verunglimpfen, katholische Priester bei Gruppensexorgien darstellen, ohne dabei islamophob oder antichristlich zu sein, Dieudonné kann aber nicht Juden und ihre Ansichten und Aktionen aufs Korn nehmen, ohne dabei ein Antisemit zu sein. Nein, das stellt sogar die menschliche Ordnung auf den Kopf. Als ‚Beweis‘ wird im Artikel folgende Aktion des gemischtrassigen Komikers angeführt: „Einmal holte er den notorischen Holocaust-Leugner Robert Faurisson auf die Bühne und liess ihm durch einen als KZ-Häftling verkleideten Mitarbeiter eine Medaille verleihen.“ Ist das lustig? Ich finde das nicht lustig. Aber wir erinnern uns, französische Satire muss nicht lustig sein. Man mag von M’Bala M’Bala halten was man will, aber das war eine sehr subversive Aktion. Er gab Faurisson eine Bühne, der seinerseits gegen Denkverbote verstösst, von der Justiz verurteilt und von Schlägern krankenhausreif geprügelt wurde. Kurz, Faurisson ist eigentlich das Paradebeispiel eines Schwachen, Armen, Kleinen, Underdogs und Outlaws, für den der französische Satiriker gemäss Definition der NLZ doch zu kämpfen hat. Um das festzustellen muss man weder Dieudonnés Humor mögen, noch Faurissons Geschichtsbetrachtungen teilen.

Der Autor des NLZ Artikels kann es drehen und wenden wie er will. Der kamerunisch-französische Komiker wurde vor Gericht gezerrt, weil er die falschen Leute und die falschen Positionen angegriffen hatte. Dieudonné war der Liebling des französischen Establishments, als sich sein „Humor“ noch konsequent gegen Autochthone richtete und er sich streng an das antirassistische Drehbuch hielt.

Warum nun diese Verteufelung des farbigen Komikers? Um die Gefühlslage die sich dahinter verbirgt zu verstehen, soll an dieser Stelle auf einen Artikel von Gilad Atzmon verwiesen werden.(6) Atzmon ist ein jüdisch-britischer Jazzmusiker, der auch schon mit kontroversen Äusserungen zur jüdischen Identität aufgefallen ist. In einem Artikel über den jüdisch-amerikanischen Komiker Larry David, schildert er folgende Episode: Larry David uriniert in einem Sketch versehentlich auf ein Bildnis von Jesus Christus. Es ekelt ihn, die Spuren seines Malheurs wegzuputzen, weshalb ein Tropfen auf dem Bild hängen bleibt. Eine Christin die das Bild im Anschluss sieht, glaubt an ein göttliches Zeichen, weil sie den Urintropfen als eine Träne interpretiert. Atzmon meint nun, wenn man die ganze Situation auf das Judentum umschreiben möchte, so dürfte ein Nichtjude nicht etwa versehentlich auf eine Menora urinieren, da vielen Juden heute die Symbolik des siebenarmigen Leuchters nicht bekannt sei. Viel eher müsste ein Nichtjude dabei versehentlich auf irgendein Holocaustsymbol urinieren.
Was will Atzmon damit sagen? Die Erinnerung an den Holocaust ist den Juden heilig. Was wir in Frankreich vorfinden ist also der Umstand, dass es in der aufgeklärten Republik möglich ist, in den Dreck zu ziehen, was Christen oder Moslems heilig ist, es aber zu strafrechtlicher Verfolgung führen kann, wenn man sich über etwas lustig macht, was Juden heilig ist. Nämlich die Erinnerung an den Holocaust. Dabei ist es offenbar noch nicht einmal nötig, den Holocaust zu leugnen. Es reicht vollkommen aus, wenn man den Umgang mit dem Gedenken an ihn satirisch aufs Korn nimmt.

Gemäss Brändle reagierte der Premierminister einfach mit dem typischen „Reflex eines französischen Polizeiministers, der Valls einmal gewesen war“, als er Dieudonné einbuchten liess. Obwohl der Journalist die Meinung Valls vollumfänglich teilt, dass M’Bala M’Bala im Gegensatz zu Charlie Hebdo keine berechtigte Satire mache, kritisiert er ihn für sein Vorgehen. Denn der französische Staat tue sich schwer mit dem „Laissez-faire“ das er selbst erfunden habe. Mit keinem Wort wird in der Analyse erwähnt, dass Valls eine jüdische Frau hat und dass es bei der ganzen Geschichte vielleicht auch um persönliche Animositäten gehen könnte. Valls bezeichnete die Juden schon als die „Avantgarde Frankreichs“ und meinte, Frankreich wäre ohne seine Juden nicht mehr Frankreich. Er ging sogar soweit, eine doppeldeutige Bemerkung zu machen, die man durchaus so auffassen konnte, dass er einen Angriff auf Juden als einen Angriff auf das universelle Gewissen versteht.(7)
Ganz offenbar geht es hier nicht einfach um die Reaktion eines ehemaligen Polizeiministers, sondern darum, dass der französische Premier sensibilisiert ist für jüdische Interessen in Frankreich und diese als besonders schützenswert empfindet, in der Republik, die für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ steht. In einer solchen Republik hat es zwar Platz für Charlie Hebdo, nicht aber für Dieudonné. Es geht letztlich um nichts anderes als Machtinteressen.

Weit davon entfernt, die NLZ als ein Organ der Lügenpresse zu bezeichnen, halten wir fest: Es wurde falsch zitiert, missliebigen Akteuren werden teuflische Attribute angehängt, es wurde mit sophistischen Taschenspielertricks der Versuch unternommen, zwei ähnliche Sachverhalte als etwas völlig anderes darzustellen und es wurde unterlassen, Hintergrundinformationen, die für das Verständnis der Geschichte wichtig sind, aufzuzeigen.
Der Artikel ist also keine dreiste Lüge, nur, um der Wahrheit etwas näher zu kommen, kann er auch nicht dienen.

Dieudonné wurde übrigens verurteilt. Mit etwas Glück hat sich der Richter dabei nicht auch noch auf die Freiheit berufen.


(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Unwort_des_Jahres_%28Deutschland%29#cite_ref-13 (21.3.2015)

(2) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/luegenpresse-ist-unwort-des-jahres-a-1012678.html (21.3.2015)
(3) Richard W. Eichler, Der gesteuerte Kunstverfall, München 1965, S. 90.
(4) NLZ, Mittwoch 18. März 2015 / Nr. 64, S. 6.
(5) http://mobile2.24heures.ch/articles/54d226cb87da8b13030000f3 (21.3.2015)
(6) Gilad Atzmon, In defence of Larry David, http://www.gilad.co.uk/writings/in-defence-of-larry-david-by-gilad-atzmon.html (22.3.2015)
(7) Patrick Le Brun: „ Most bizarrely, he makes a statement that has a double meaning, that when one attacks Jews, one attacks the Universal Conscience (or simply that such an act is unconscionable). Considering the intensity of his past praise for the Sons of Abraham in the past and the supernatural self regard of these people (see Abe Foxman referring to the Holocaust as attempted Deicide) it seems likely that Valls was indeed comparing the self esteem of the Jews to the Universial Conscience. » http://www.counter-currents.com/2015/01/hypocrisy-on-the-march/ (22.3.2015)