Selbsterziehung und Charakterbildung

von Dr. Helmut Stellrecht

Die Eigenart jedes Menschen ist als Anlage gegeben. An der Anlage ist nichts, aber auch gar nichts zu ändern. Aber was aus dieser Anlage wächst, das bedingt die Umwelt, Schicksal und Erziehung, im Ausnahmefall der eigene Wille. Ein Beispiel ist schwer zu finden. Eine Anschauung gibt das Wachsen der Pflanze. Der Samen bedingt durch die ihm innewohnende planende und gestaltende Kraft ihrer Erscheinung. Diese Kraft gegenüber stehen die äußeren Umstände: Standort, Bodenart, Klima. Sie beeinflussen Wuchs und Wachstum

Ein Beispiel: Eine Kiefer bleibt immer eine Kiefer, aber in der Enge einer Schonung wird sie ein charakterloser Massenbaum. In der Freiheit zu sich selbst wird sie zu einem Baum, der als eine gewachsene Persönlichkeit erscheint. Im guten Boden wächst sie schnell und locker, im schlechten Boden, im harten Lebenskampf wächst ihr ein zähes, hartes harziges Holz. Auf hohen Bergen kann sie verkrüppelt durch Wind und Wetter die größte innere Zähigkeit und Festigkeit gewinnen. Eine Kiefer bleibt immer eine Kiefer und steht doch in so verschiedener Gestalt vor uns.

Die menschliche Anlage ist wie ein Samenkorn. Das Allgemeingültige ist durch sie bestimmt. Aber der Gang des Lebens gibt erst die endgültige Prägung. Je reiner die Rasse ist, desto klarer ist der Weg. In der Freiheit zu sich selbst ist die endgültige Prägung ohne Frage.

Sind verschiedene Rassenkomponenten in der Anlage vorhanden, so steht ihr Träger in seinem Leben oft am Scheidewege. Die Entscheidung wird getroffen durch die Wirkung der Erziehung oder der Umwelt, durch das Schicksal oder durch den eigenen unabhängigen Entschluß. Wir kennen das Bild eines in der Klarheit seinen Weg gehenden Menschen. Es ist, als ob seine Füße nur auf einen Weg gesetzt werden brauchten, um ihm, ohne zu irren, zu gehen. Dieses Bild ist aber so selten, daß es für uns ein bleibender Eindruck ist, wenn wir es einmal sahen.

Die große Menge aber geht nicht auf einer sicher gezeichneten Bahn. Die Charakteranlagen bedürfen der Härtung, um zu festen Charakterzügen zu werden. Es ist nicht die absolute Sicherheit gegeben, daß in einer schweren Prüfung der Weg unter der Entwicklung von Umwelt, Erziehung oder Schicksal einige Male gegangen wurde, bildet sich die Stabilität eines Charakterzuges heraus, ein gleiches Reagieren auf die gleiche Schicksalsfrage. Man sprach früher von „versuchten“ oder von „geprüften“ Menschen und meinte damit, daß sie die Gewähr bieten, an einem Scheideweg den rechten Weg zu wählen.

Weil das so ist, gibt es keine wirkliche Erziehung, die darauf verzichten kann, den zu Erziehen in Prüfung zu stellen und ihm dabei zu helfen, sich richtig zu entscheiden. Der eigene Entscheid aber darf ihm nicht genommen werden. Die erzieherische Führung darf nur darin bestehen, in die Prüfung zu stellen und Hilfe zu geben, aber sie darf nicht zwingen. Sonst kann der zu Erziehende sich nicht im eigenen Entschluß den rechten Weg bahnen. Sonst kann keine innere Härtung für die Zukunft erfolgen.

Es gibt bei solchen Entscheidungen viele äußere Mittel, um nach innen zu wirken. Man denke nur, welche Rolle für die Entscheidung in einer Ehrenfrage die Ehrauffassung der Gemeinschaft spielt, in der der einzelne lebt. Ist diese die blutgegebene Auffassung der eigenen Rasse, so ist sie für die Gemeinschaft wie für den einzelnen gleich sicher gegeben. Sobald aber die rassische Anlage nicht eindeutig ist, kann die Auffassung der Gemeinschaft entscheidend werden.

Solche äußeren Mittel sollen dem entgegenkommen, was sich von innen entwickelt. Sind zum Beispiel Gemeinschaft und Einzelpersönlichkeit aus der gleichen Rasse gewachsen, so ist es ohne weiteres gegeben, daß sich die Auffassung des einzelnen zu der der Gemeinschaft bekennt. Die Gemeinschaft bewirkt nur ein schnelleres Wachstum, oder, wenn man so will, sie leistet nur Geburtshilfe bei dem zur eigenen Auffassung Strebenden.

Sind verschiedene Rassenkomponenten mächtig, so kann die Gemeinschaft bewirken, daß die Komponente sich durchsetzt, die der gemeinschaftlichen Auffassung entspricht. Der Erzieher muß aus der eigenen klar geprägten Form heraus dem zu Erziehenden Vorbild und Helfer sein können. Er muß tief in das Werden des zu Erziehenden hineinsehen und seine Kräfte abschätzen können. Er darf nur soviel an Hilfe geben, wie diese Kräfte selbst nicht ausreichen, um zum Ziele zu kommen.

Voraussetzung einer wirklichen Charaktererziehung ist, daß die gestaltenden Kräfte in jedem einzelnen voll und ganz, ja, bis zur letzten Anspannung durch den eigenen Entschluß des zu Erziehenden genützt werden. Nur so bildet sich in der Persönlichkeit eigene Kraft und eigenes Gewicht. Bei einer zu starken Formung von außen her, der nicht der innere Entschluß antwortet, entsteht eine äußere Form, die nicht in Einklang mit den inneren Kräften steht. Es entsteht keine Persönlichkeit mit vom Mittelpunkt nach außen gerichteten Kräften. Die äußere Form wird nur ein Halt für das, was innen ausgehärtet, ja hohl geblieben ist. Es ist ein Gesetz, daß die inneren Kräfte nur dadurch entwickelt werden können, daß sie restlos angespannt werden. Sie wachsen durch den Einsatz auf eigenen Befehl oder an dem Widerstand, den sie finden. Sie wachsen im Dienst und beweisen damit, daß in ihm die Freiheit liegt.

Die Selbsterziehung auf den eigenen Befehl ist die höchste und seltenste Form der Erziehung. Sie ist zugleich die stärkste und schafft die stärkste Persönlichkeit. Aus der Selbstüberwindung, d. h. dem Sieg des eignen Gestaltungswillens gegen die widerstrebenden Kräfte, wächst die höchste Kraft, eine Kraft, die weiter wirkt und die Umgebung gestaltet. Es liegt etwas Ungeheures in der so aus sich selbst gestalteten Persönlichkeit. Sie trägt Macht in sich und hat Macht nach außen. Die äußere Gewalt kommt aus der Gewalt über sich selbst.

Eine solche Persönlichkeit ist hart. Hart sein heißt nicht, hart gegen andere sein, sondern hart gegen sich selbst und damit in sich selbst. Hart sein heißt durch und durch geprägte Form haben. Die höchste Form ist die, die im Wechselspiel mit dem eigenen Prägungswillen wuchs.

Eine Persönlichkeit, die nicht aus einer Rassenkomponente selbstverständlich wuchs, sondern mehrere Rassenkomponenten in sich trägt, kann im Kampf um reine Gestaltung und um den Sieg einer Komponente besondere Kräfte und Härte der Prägung gewinnen.

Die reine Rasse, die ohne Probleme aufwächst und der deshalb ein innerer Kampf erspart bleibt, kann nur so lange befriedigen, wie sie im äußeren Kampf sich bewähren muß. Sonst wird sie mehr und mehr zu einem schönen äußeren Bild, dem die innere Härtung fehlt. In der zu der Rasse gehörenden Erlebnisreihe fehlen der Kampf und damit die entscheidende Prägung. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Um wieviel mehr gilt dieses Wort für die zu erwerbende Gestalt als für den äußeren Besitz.

Es ist ein Gesetzt, daß der Wert alles Erworbenen durch die Mühe bestimmt wird, die der Erwerb machte. Beglückender und stärker ist das Selbsterworbene, das durch die eigene Mühe Weitergestaltet, als das, was nur aus der Anlage heraus sich kampflos entwickelte. Bei der Pflanz wirken nur die äußeren Kräfte auf die endgültige Prägung der Gestalt. Aber beim Menschen ist es sein eigener Entschluß zur Prägung, der entscheidend für seine Form und seine Kraft wird.

Neben der Erziehung sind es auch die äußeren Umstände, die nach innen wirken. Gehören sie zur rassischen Erlebnisreihe, so wecken sie eine gestaltende Kraft, die ihnen entgegenkommt. Wieder ist der Wert der erreichten Form durch die aufgewendete Mühe bestimmt. Der Erzieher wird bewußt durch äußere Umstände innere Kräfte der Gestaltung wecken, wird Widerstände schaffen, die durch Mühe überwunden werden müssen und so zur beglückenden Form führen.

Es ist eine wichtige Frage, wie groß diese Widerstände gehalten werden sollen. Mir scheint es notwendig, daß das Selbstbewußtsein, das auf Grund der mitbekommenen Erbanlage zur Schau getragen wird, ohne daß an die Mühe einer eigenen Gestaltung gedacht wird, oder ohne daß der Wille da ist, wirkliche Widerstände zu überwinden, gebrochen wird. Bei allen Erziehungssystemen, sei es das des deutschen Heeres oder der kindlichen Erziehung, der handwerklichen oder studentischen, geschieht dies. Ein jugendliches falsches Selbstbewußtsein, das sich noch nicht auf eigene Leistung und Prägung gründet, wird gebrochen. Die deutsche Sprache hat dafür das merkwürdige Wort „Abfuhr“. Dieses Brechen weckt die innere Bereitschaft zur Gestaltung, die für die Erziehung das wichtigste Gefühl ist, auf dem sie aufbauen kann.

Die Zeit des Brechens des falschen Selbstbewußtseins heißt beim Heer Rekrutenzeit, beim Mönchstum Novizenzeit, beim Handwerker Lehrlings- und bei den studentischen Korporationen Fuchsenzeit. Immer ist das Prinzip eines niedrigen Dienstes da, der Bewährung in gestellten Prüfungen.

Auf eine Zeit des Druckes folgt dann eine Zeit der Freiheit zum eigenen Wachsen und Gestalten, wobei die Gemeinschaft den Halt gibt. Die alte Weisheit, die geübt wird, steckt in dem Spruch: „Wer nicht gehorchen gelernt hat, kann auch nicht befehlen.“ Es ist eine Tatsache, an der man nicht vorbeigehen kann: Wem in seinem Leben diese Periode des Ein- und Unterordnens, der inneren Kräftebildung durch äußeren Druck gefehlt hat, dem fehlt etwas an seiner Charakterprägung, sowohl an Härte und Gestalt. Ich nehme die wenigen aus, die aus eigenem Willen in einer unerhörten selbstauferlegten Askese (das Wort richtig verstanden) an sich diese Arbeit vollbracht haben. Aber auch ihnen schadete die Unterordnung auf eine Zeit nichts. Daran sind gerade solche starken Persönlichkeiten nicht zerbrochen. Im Gegenteil, sie haben daraus Kraft für die eigene Gestaltung gezogen.

Sie sind am Widerstand gewachsen. Das „Entäußern seiner selbst“ auf eine Zeit ist geradezu kennzeichnend für große Menschen und bedeutet Kraftsammeln für die entscheidende Periode ihres Lebens. Wie manche große Begabung blieb ohne Form, da ihr wieder Erziehung, Umwelt und Schicksal noch eigener Wille diese geben konnten. Sie blieb weich, weil sie nicht zwischen Feuer und Wasser zu Stahl wurde. Sie wurde nicht im Sinne ihrer Anlage brauchbar.

Stärker als das Härten durch Schicksal, Erziehung und Umwelt wirkt die seelische Erschütterung durch das Schicksal. Sie prägt nicht nur sich entwickelnde Kräfte. Nein, sie greift viel tiefer und weckt Kräfte, die noch gar nicht zum Bewußtsein kamen. Die seelische Erschütterung ist ein gesteigertes Erlebnis, das schicksalhaft ins Leben getreten ist und in die Tiefe des Wesens faßt. Das Erlebnis, das zur seelischen Erschütterung wird, muß dem Wesen zugeordnet sein. Er wird aber dann zur stärksten Kraft der Charakterprägung und zur stärksten Wirkung auf das fernere Leben. Vielleicht besteht sie in einem äußerlich gar nicht großen Ereignis, das auf tausend andere ohne Wirkung bleibt. Goethe wurde einmal eine Brockenwanderung zu einem Ereignis, das man als seelische Erschütterung bezeichnen kann. Tausende haben vor ihm und nach ihm dieselbe Wanderung gemacht, ohne daß irgend etwas Entscheidendes oder wenigstens Gestaltendes für sie davon ausging. Die Bedeutung solcher Stunden gerade für einen einzelnen läßt tief in das Wesen des Genies hineinsehen, das ungeheure Kräfte latent in sich trägt, die ein bestimmtes Ereignis zum Durchbruch bringt. Sie zeigt aber auch, daß eben Genies schicksalsmäßig in den Ablauf des Kosmos eingeordnet sind, um mit bestimmten Ereignissen ihre Kräfte für die weitere Gestaltung des Ablaufs auszulösen. Das wirkliche Genie erfühlt in der entscheidenden Stunde die gestellte Aufgabe und die mitgegebene Kraft und meistert sie für die große innere und äußere Gestaltung.

Kehren wir vom Genie zur Begabung und zum Durchschnitt zurück. Auch für ihn hat die seelische Erschütterung ihre erzieherische Bedeutung. Sie kann von Schicksalsschlägen herrühren, die ihn treffen. Aber auch eine Strafe kann eine tiefgreifende Wirkung haben, wenn sie so trifft, daß sie zu einer inneren Hilfe wird und eine Kraft auslöst, die der eigene Wille nicht geben kann. Enttäuschungen liegen auf derselben Linie. Enttäuschungen, Widerstand, Unglück werden so zu stärkten aufbauenden Kräfte, stärker noch als Befriedigung und sogenanntes Glück.

Wahre Kraft wächst am Widerstand. Er ist für sie Wachstumsreiz. Prägung erfolgt nur durch Kraft und Gegenkraft. Hohes Erziehen geschieht so in einer schmerzvollen Form, auf die der zu Erziehende stolzer als auf alles andere ist. Das Heer hat in seiner Erziehung das immer gewußt. Aus tiefem Hineingreifen in das Leben des einzelnen, aus großen harten Forderungen wächst zuerst der Stolz darauf, daß überhaupt solche Anforderungen gestellt werden und dann der noch größere Stolz, ihnen genügt zu haben. Es sind nicht Anforderungen an einen einseitigen Intellekt, sondern an die Bewährung des ganzen Mannes. Das ist das Entscheidende. Man fühlt sich als ganzer Kerl und nicht als einseitiger Könner.

Charakterbildung ist das höchste Ziel der Erziehung. Die Mittel dazu liegen überall dort, wo Seele und Leib zu fassen sind. Beide sind eine viel größere Einheit in ihrer gegenseitigen Wirkung, als die meisten ahnen. Aus der Anlage heraus wird der Charakter durch Kraft und Gegenkraft gehärtet und gebildet. Sieger ist der wirkliche Gebildete.

Und keine Kraft der Welt zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“

Quelle:

Tafelrunde der freien Geister, Helmut Stellrecht, Thingprotokoll von 2001-2007, Thule Seminar