Bereitschaft

Der große Dichter Shakespeare mißt der Fähigkeit der Bereitschaft die größte Bedeutung zu. „Readiness is all“, sagt er in einem seiner Dramen und meint damit die stete Gegenwärtigkeit, dem Schicksal – das ist: allem, was kommen mag – standzuhalten und gegenüber zu treten. Denn das Schicksal, das heißt: Das Unvorhergesehene ist immer unterwegs, es kann uns in jedem Augenblick begegnen. Hiermit ist die Lage des Menschen gekennzeichnet, der im Unfaßbaren, im Unwägbaren und im Unberechenbaren sein Dasein vollbringt.

Der „moderne“ Mensch mag diese Anspielung auf das Unmeßbare nicht gern hören, denn er versucht im Gegenteil, alles wägbar, vorhersehbar, meßbar, überschaubar, berechenbar und erklärbar zu machen. Nun soll diese geistige und technische Kraft, unser äußeres Dasein in feste Regeln zu fassen, möglichst ungefährlich zu machen und rational zu beherrschen, nicht unterschätzt und auch nicht vereint werden. Auf ihr beruht unsere gesamte technische Zivilisation. (Kultur ist das freilich noch nicht). Aber jeder tiefer Sehende weiß, daß diese nur die äußeren, gleichsam mechanischen Regeln sind, die wir anwenden, um den Apparat der Zivilisation (der Beherrschung der äußeren Kräfte der Natur) wirksam und erträglich zu machen. Und er weiß auch, daß es den meisten Menschen noch nicht einmal gelungen ist, sich selbst voll zu beherrschen, ihre Triebe in Zucht und unter Kontrolle zu halten und sich über die unbewußte Welt des Tieres zu erheben. Daher ist das höhere Gebot für den Menschen mit innerer Kultur, zuerst die Herrschaft über sich selbst zu erlangen und sich nicht von jedem Vorkommnis im Leben erschüttern, umwerfen oder verwirren zu lassen. Hiergegen hilft die Eigenschaft, welche wir Bereitschaft nannten.

Bereitschaft schließt eine gewisse Wachsamkeit ein, die sich auf die Möglichkeit erstreckt, ein neu eintretendes plötzliches Ereignis mit voller Handlungsfähigkeit zu erwidern. Die Tiere haben diese Fähigkeit noch in hohem Maße, weil ihr Leben oft davon abhängt. Der Mensch droht sie dagegen immer mehr zu verlieren, weil er sich in dem Wahn und Traum wiegt, sein Leben sei überall und ringsum gesichert. Daß aber auch in ihm die tiefe Scheu und Angst vor den unvorhergesehenen Möglichkeiten des Daseins vorhanden ist und sein Tun und Denken weitgehend bestimmt, ist allein daraus zu ersehen, daß die Sucht, sich gegen alles Mögliche und Unmögliche versichern zu lassen, in unserer Zeit gewaltig angestiegen ist. Tatsächlich fühlt sich also der Mensch unserer Zeit keineswegs „geborgen“ und in seinem Dasein wohlaufgehoben in der Epoche der technischen Perfektion (Super-Vollendung) der äußeren Mittel, sondern er bangt heimlich um seine Zukunft und denkt dabei an Atomkrieg, Autounfall, Flugzeugunglück, Krankheit, Überfall, Entführung und Erpressung.

Jedoch kann man all solchen Möglichkeiten mit äußeren Versicherungsmitteln allein nicht begegnen, wenn man nicht eine innere Haltung aufbringt, welche zusätzliches Unglück infolge „verwirrter Sinne und zersplissenen Herzens“ (Stefan George) ausgleicht. Man kann sich auch zu Gelassenheit erziehen. Wer sie von Natur aus nicht besitzt, kann sie durch Verstand und Übung zum Teil wenigstens ergänzen.

Bereitschaft bedeutet daher die Fähigkeit und den Willen, das Bewußtsein und die Notwendigkeit, sich selbst im Zaum zu halten und jedem Schlag des Schicksals ein festes Herz entgegenzustellen. Soldaten, Jäger, Forscher in gefährlichen Aufträgen, die Führer solcher technischen Wunder, wie es die großen Flugzeuge der Zeit sind, werden auf die Eigenschaft des schnellen Entschlusses in Notlagen „getestet“ und geschult. Die innerste Voraussetzung dazu ist aber der ungebrochene Sinn für die jederzeit mögliche Bedrohungslage des Lebens: Bereitschaft.

Quelle:
Dr. Wilhelm Kusserow, Lebenswissen – Natürliches Weltbild, Artgemeinschaft-GGG, S. 106 & 107