Führung und Gefolgschaft

Solange wir von kriegerischen Bünden kampfbereiter Männer wissen, solange steht alles Kriegertum unter dem Zeichen des engsten Zusammenschlusses eines erkorenen Führers mit den Männern, die ihm zu jeder ehrenhaften Tat, in den Kampf und in den Tod zu folgen bereit sind. So steht am Anfange der geschriebenen deutschen Geschichte jene Schilderung der germanischen Gefolgschaft, die der Römer Tacitus vielleicht einem germanischen Gewährsmann nacherzählt hat:

Führer wirken mehr durch ihr Beispiel als durch ihre Amtsgewalt; wenn sie schnell bereit, wenn sie weithin sichtbar sind, wenn sie allervorderst kämpfen, so erregen sie Bewunderung. Unter den Gefolgsleuten herrscht großer Wettstreit: jeder will der vordere bei seinem Fürsten sein, der Führer aber ist darauf bedacht, viele und schnelle Gefolgsleute zu haben. Das ist Ehre, das ist Macht: immer umgeben sein von einer großen Schar auserlesener Jungmannen; im Frieden ist es eine Zier, im Kampfe ein fester Zaun.“

Diese Schilderung enthält alle Elemente, die in unserer germanischen Dichtung und in der späteren deutschen Heldendichtung das Grundgefüge aller Ehre und Treue bilden und damit jeglicher Kampfgemeinschaft: Treue und Tapferkeit zwischen Führer und Gefolge, und nicht minder zwischen Gefolge und Führer, denn Treue ist nur dann Treue, wenn sie immer und zu jeder Zeit gegenseitig ist. So tief war dieses Bild in der Vorstellung und im Empfinden aller germanischen Völker verwurzelt, dass eine ganze Reihe von Worten bis heute davon zeugen: Führer, Fürst, Herr, Herzog und die heute nicht mehr lebenden Bezeichnungen „Truchtin“ und „Thiodan“ für das Gefolge aber „Gesinde“, das heißt „Weggenossen“, „Gesellen“, das heißt „Saalgenossen“, und „Jünger“, ein Wort, das seine ursprüngliche Bedeutung an einen ganz anderen Vorstellungskreis verloren hat. Es sind nämlich ursprünglich die Jungmannen des kriegerischen Gefolges; die christlichen Dichter der deutschen Frühzeit aber wußten kein anderes Wort zu finden, um die Gefolgschaft des Christus zu bezeichnen, und so ist Wort und Begriff in eine ganz andersgeartete Welt übergegangen.

Nicht nur in der Sage, auch in der geschichtlichen Wirklichkeit tritt dieser inmitten seiner Gesellen reitende und an ihrer Spitze fechtende Gefolgsherr auf, und zwar oft in den größten Augenblicken der deutschen Geschichte. König Otto der Große ritt als ein echter germanischer Gefolgsherr in die große Ungarnschlacht auf dem Lechfelde, wie es Widukind von Corvey schildert:

Im fünften Heerhaufen, der der größte war, ritt der Fürst selbst, umwallt von erlesenen Degen aus allen Tausendschaften und von kampfesfroher Tugend, und bei ihm war das Siegesbanner, von dichten Heerhaufen umzäunt. Der Fürst griff den Schild, erhob den heiligen Speer und sprengte als erster wider den Feind, rühmlich, wie es einem Könige ansteht, der über streitbare Männer gebietet.“

Dieser Heerhaufen, der den Führer selbst umgibt und der das Feld nicht lebend verläßt, wenn der Führer fiel, heißt geradezu der „Trost“, weil er dem Fürsten ein Sinnbild alles Festen, alles Vertrauens und aller Sicherheit ist, wenn er selbst als erster gegen den Feind reitet. Es ist die Mannenforderung der deutschen Urzeit und der deutschen Gegenwart des Mittelalters, wenn Hagen, das Urbild des bis in den Tod getreuen Gefolgsmannes, im Nibelungenlied die Worte spricht:

Ez zaeme“, so sprach Hagene, „vil wol volkes tröst, daz die herren ze aller vorderöst!“.

Diese Treue haben auch unsere geschichtlichen Helden ihren Mannen immer gehalten. Wenn Liudolf, der Sohn des großen Otto, sich mit seinem Vater entzweite, weil er seinen jungen Gefolgsleuten unter allen Umständen die Treue halten wollte, so ist er gerade darum, verwoben mit dem Bilde des Herzogs Ernst von Schwaben, zum Helden der deutschen Volkssage geworden. Die größte Volksdichtung, die neben dem Nibelungenliede, dem Liede von der Mannentreue, und dem Gudrunliede, dem Liede von der Frauentreue, das mehr als ein Jahrtausend den Deutschen Sinnbild und Beispiel der Gefolgschaftstreue war, ist die Dichtung von Dietrich von Bern und seinen Gesellen. Die Geschichten von ihm, dem großen Volkskönig, wurden überall erzählt, wo Germanen wohnten: von Fahrenden in Bayern und Österreich, von den Ostlandfahrern der Hanse und von westfälischen Kaufleuten in den Kaufmannsstuben in Norwegen; und das Thema ist in mancherlei Abwandlungen immer das, wie Dietrich seine Gesellen nach hartem Kampfe gewann, wie er um ihretwillen das Reich verlor, und wie er fast alle im heldenhaften Endkampf mit den Burgundenfürsten untergehen sieht. Die Volksdichtung hat die Gestalten der alten germanischen Gefolgschaft, von denen schon Tacitus berichtet, in lebensgetreuen Persönlichkeiten geschildert: den im Kampfe ergrauten Vertrauten des Fürsten in dem alten Hildebrand, den jungen, hitzigen Degen in dem schnellen und hitzigen Wolfhart. Und die Tragödie des Berners nimmt von seiner Treue gegen die Gefolgsmannen ihren Ursprung: er räumt vor dem falschen Sibich sein Reich, um seine Getreuen aus der Gefangenschaft zu lösen. Wittich, der ungetreue Gefolgsmann, geht zum Feinde über; den in tiefster Seele treuen Heime aber, einen eigenwilligen Eisenkopf, nötigt Dietrich selbst durch Misstrauen aus seinem Kreise und zwingt ihn, in die Wälder zu gehen und des Tages zu warten, da er seine Treue beweisen kann.

Auch hier hat die germanische Volksdichtung das Tragische aller lebendigen Gemeinschaft erkannt; dass Treue mit Treue, persönliche Ehre mit Mannenpflicht in Widerstreit geraten kann, so dass gerade der Allertreuste verkannt wird. Aber das ist den alten Dichtern die allerhöchste Treue, dass Heime in den Wäldern sich selber treu bleibt, um am Tage der Gerechtigkeit dem Gefolgsherrn beizustehen und den wirklichen Verräter mit dem Schwerte zu erlegen. Die Grundkräfte germanischen Wesens bleiben sich im deutschen Volkstum immer gleich. Wo immer sich eine lebendige Ordnung neu bildete, da war sie gegründet auf gegenseitige Treue zwischen Führer und Gefolgschaft und auf der Gerechtigkeit, die über beiden waltet. Unzerstörbar ist jede Gemeinschaft, die auf dieser Grundlage ruht; vergänglich, wenn diese Grundlage erschüttert ist.

Quelle:
Arbeitskreis Deutsche Mythologie (Hrsg.), Das Erbe der Ahnen, Germanische Feste und Bräuche im Jahresring, Neuauflage, Kiel 2010, S. 73-77.