Gedankengänge von Dominique Venner – 2. Teil – Wie kann man heute ein Unbeugsamer sein

Einem Großteil meiner Arbeit als nachdenklicher Historiker lagen zwei prägende Einsichten zugrunde: erstens die erlebte Wahrnehmung der europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, zweitens die Erkenntnis vom Schwund unseres Gedächtnisses, d.h. das Wissen um unsere Unfähigkeit, Herausforderungen anzunehmen. An meinem Lebensabend angekommen erkenne ich allerdings die ersten Vorboten eines Erwachens, an das ich stets und immer geglaubt habe, ohne zu hoffen, dass es mir vergönnt sein würde, es noch zu erleben.

Ich habe nie akzeptiert, dass die Dekadenz Europas und der europäische Niedergang eine Zwangsläufigkeit sein müßte. Bevor ich Historiker und Essayist wurde, war ich in meiner Jugendzeit ein Kriegsteilnehmer. Das unterscheidet mich von so vielen Intellektuellen, die ins Blaue hinein reden. Wenn man ein paar persönliche Charakterzüge dazuzählt, erklärt dieser Umstand zweifelsohne, weshalb ich stets einen unkonventionellen Standpunkt vertrete angesichts der Geschichte, die gerade ihren Lauf nimmt. In der Tat ist Geschichte keine exakte Wissenschaft. Wie man auch dazu steht, sie ist mitnichten eine Wissenschaft, bedient sich aber wissenschaftlicher Methoden. Geschichte ist Wissen und Dichtung zugleich. Dabei ist dieses Wissen nicht dazu da, um Forscher, Lehrer oder Gelehrte zu befriedigen, sondern seine Aufgabe liegt darin, die Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären, auszuleuchten, warum Mächte entstehen und untergehen, das Verhalten und die Beweggründe der großen und kleine Akteure, die Ursachen und die Folgen zu erhellen. Seine Rolle besteht darin, Licht zu werfen auf uns selbst und die unsichere Welt, in der wir leben. Dieses Wissen ist darauf ausgelegt, uns unser abgerissenes Gedächtnis wiederzugeben. Es geht durch Analogieschluß und vergleichend vor. Es ist nicht werteneutral, sondern sinnstiftend: Aus diesem Grunde ist es gefährlich und berauschend zugleich für diejenigen, die, jenseits der bloßen Wißbegierde oder Unterhaltung, aus ihm eine Daseinsberechtigung, einen Ansporn zur Tat und einen Grund zur Hoffnung schöpfen.

Auf diese Weise habe ich der Vergangenheit alles entnommen, was mir von Nutzen war, um die Gegenwart zu verstehen und die Verheißungen der Zukunft zu wittern, auch wenn sie düster waren. Ich habe immer Abstand gepflegt zu akademischen Auseinandersetzungen, wobei ich mir alle Schulrichtungen zunutze machte. Ich stützte mich auf die Kenntnis der langen Vergangenheit der großen Weltkulturen, um zu wissen, dass es in dieser Sache keine historische Zwangsläufigkeit geben kann. Ich glaube weder an die großen ‚Gesetzmäßigkeiten‘, die einem Vico oder Spengler vorschwebten, noch an die Theorien, die ein Marx oder neuerdings ein Fukuyama zu diesem Thema aufgestellt haben. Das habe ich schon öfters dargelegt.

Wie könnte man heute nicht Rebell sein? Am Vorabend der Religionskriege in Frankreich schrieb Etienne de la Boetie, der Freund von Montaigne, ein Buch mit dem Titel Discurs de la servitude volontaire (Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen), in dem er auf die heimtückischen Formen der verschleierten Tyrannei hinwies, die der Mensch duldsam hinnimmt. In unseren europäischen Ländern ist die heutige Zeit überreich an solchen verdeckten Tyranneien. Ich bin gegen sie aufgestanden.

Leben heißt kämpfen gegen das, was mich verneint. Rebell zu sein heißt nicht, ganze Sammlungen von nonkonformen Büchern zu haben, von fanatischen Verschwörungen zu träumen oder vom Partisanenkrieg in den Karpaten. Rebell sein heißt, seine eigene Norm zu sein, aus Treue zu einer höheren Norm. Sich aufrecht halten vor dem Nichts. Darauf achten, nie von seiner Jugend zu genesen. Lieber sich die ganze Welt zum Feind machen, als zu Kreuze zu kriechen. Bei Rückschlägen nie die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Kampfes stellen. Man handelt, weil es unwürdig wäre, sich geschlagen zu geben. Lieber kämpfend sterben als sich ergeben.

Die erste Tat eines Unbeugsamen besteht immer darin, sich von der Angst oder der Faszination der Wörter zu befreien. Wörter beschwören Bilder herauf, die ermunternd oder schädlich, verwirrend oder berauschend sein können. Wörter wirken verführerisch, heimtückisch oder einschüchternd. Durch sie vermag ein herrschendes System die Menschen, die es ausschalten will, einzufangen, noch lange bevor es zu drastischeren Mitteln greift. Indem man seinem Gegner einen Namen gibt, den man selbst gewählt hat, kann man sich ihm gegenüber durchsetzen, ihm ohne sein Wissen die eigenen Spielregeln aufzwingen, seine Ausschaltung vorbereiten oder, umgekehrt, sich seinem Zugriff entziehen. Kaiser Julian, Macchiavelli, Voltaire, Nietzsche oder Solschenizyn haben nicht anders gehandelt, um frei zu werden.

Wörter sind Waffen. Seinen Wortschatz selbst auszuwählen, sich erst recht einen Namen zu geben, heißt, seine Existenz, seine Selbständigkeit, seine Freiheit zu behaupten. Daher können wir den Begriff ‚Unbeugsame‘ voll in Anspruch nehmen.

Zwischen den Unbeugsamen und der Legitimität besteht ein inneres Verhältnis: Der Unbeugsame versteht sich als Widerstand gegen etwas, das er als illegitim wahrnimmt. Im Angesicht der institutionalisierten Lügen oder der Ruchlosigkeit ist er sein eigenes Gesetz, aus Treue zur verhöhnten Legitimität. Die Aufsässigkeit (Unbotmäßigkeit) ist zuallererst Sache des Geistes noch ehe sie zu den Waffen greift. Dieser Wille, den Kampf aufzunehmen, auch wenn er aussichtslos ist, wurde einstmals in der Antigone von Sophokles verkörpert. Ihr Beispiel für uns ein in die Welt der sakralen Legitimität. Denn die Griechin Antigone ist eine Rebellin aus Treue. Sie trotzt dem Beschluß Kreons aus Respekt vor der Tradition, die der König verletzt hat. Mag sein, dass Kreon seine guten Gründe hat, sie machen das Sakrileg nicht rückgängig. Antigone meint also, ihre Rebellion sei legitim, und sie akzeptiert von vornherein den Preis dafür. Dieses Beispiel, von Sophokles überliefert, sollte uns nachdenklich stimmen: Es ist Teil unserer Tradition.