Kaspar Villiger, im Bundesrat von 1989 bis 2003, räsoniert in der NZZ darüber, ob er auch schon einmal Opfer seiner eigenen Wunschvorstellungen geworden sei. Ob er nicht auch schon der menschlichen Neigung erlegen sei, Informationen so auszuwählen und zu gewichten, „dass sie unsere Hypothesen, Ideologien oder Vorurteile bestätigen“. Dabei macht er drei Überzeugungen ausfindig, die sich als Illusionen erwiesen. Erstens, dass sich dank besseren Informationsmöglichkeiten in der Politik die Wahrheit und nicht die Lüge durchsetzen würde. Zweitens, dass sich die liberale Demokratie dank ihres Leistungsausweises und der Vernunft der Menschen weltweit durchsetzen würde und drittens, die Erwartung, Krieg als Mittel der Politik werde langsam aussterben.
Villiger sieht die Demokratie durch KI und Algorithmen in den sozialen Medien gefährdet, welche Hass und Spaltung begünstigten und, im Falle der KI, die Wahrheit nicht mehr von der Lüge unterscheidbar mache. Dieses birgt tatsächlich Risiken für die Informationsfreiheit und für die MEinungsbildung per se, soweit ist dem Altbundesrat beizupflichten. Die Frage sei, „ob und wie kluge Regulierung einen fairen Meinungswettbewerb sichern könnte“. Eine berechtigte Frage, die sich aber auch politische Hardliner im Iran stellen. Beantwortet wird sie im Artikel nicht. Es stellt sich nur die Frage, wie sich eine solche Regulierung mit einer „liberalen Demokratie“ in Einklang bringen lässt. Am Ende fühlen sich liberale wie klerikale Machthaber im Recht, wenn Sie das Internet zensieren. Die Zensur dient ja in beider Augen dem höchsten Gut und ist somit legitim. Nur die infame Lüge soll verhindert werden. Aber wo fängt die Lüge an und hört die Meinungsfreiheit auf? So hätte Kaspar Villiger damals in den 90ern ein Nein zum Antirassismusgesetz keinesfalls als ein Votum für freie Rede und somit die Demokratie gesehen, sondern als ein Zeichen, das all seinen liberalen Überzeugungen widersprochen hätte. Dem Extremen müsse man schliesslich eine klare Absage erteilen.1 „Hinreichend informierte Bürger und einen offenen Wettbewerb der Meinungen“ ja, aber bitte lasst mich definieren, wo die Meinung aufhört und der Hass beginnt? Oder in den Worten Alain de Benoist‘: „Eine hohe Zahl von Liberalen erkennen jedem das Recht zu, eine Meinung zu äussern… unter der Bedingung, dass diese Meinung die ideologischen Voraussetzungen, an die sie gewohnt sind, nicht in Frage stellt.“2 Der Rest wird dann als Hass deklariert und somit nicht mehr als legitime Meinung goutiert oder als Gefährdung für die Demokratie taxiert. Dem Extremen muss man eben eine Absage erteilen. Auch dem extrem Liberalen?
Gefahren für die Demokratie macht Villiger nicht bei der Beschneidung der Meinungsfreiheit aus (es wird ja keine Meinung beschnitten, nur Extremem eine Absage erteilt), sondern bei den Populisten. „Dass ein Volk das Privileg einer Demokratie je freiwillig unter Einfluss von Populisten aufgeben könnte“, sei für ihn undenkbar gewesen? Passiert ist das wo? In Rumänien? Nein, da werden die freien Wahlen nicht durch Populisten beerdigt, sondern durch jene, welche das Land vor(vermeintlichen) den Antidemokraten schützen wollen. Empört er sich ab der damaligen Kanzlerin Merkel, welche demokratische Ministerpräsidentenwahlen in Thüringen vom südlichsten Zipfel Afrikas aus als illegitim bezeichnet, die zu wiederholen seien, weil der – notabene – liberale Kandidat mit den Stimmen der falschen Partei gewählt wurde? Nein, das Problem ist natürlich Trump. Noch als Bundesrat hätte er sich nie vorstellen können, dass in den USA ein vorbestrafter, die Checks an Ballances mit den Füssen tretender, nach dem Willkürprinzip regierender schamloser Lügner demokratisch gewählt werden würde. Wahrscheinlich geht Villiger davon aus, dass diese Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen. Denn schamlos lügende Präsidenten hatte die USA schon öfters, die einen, relative harmlos, logen unter Eid darüber, wer sich zu welchen Zwecken unter ihrem Schreibtisch tummelt, andere erfinden Massenvernichtungswaffen um einen völkerrechtswidrigen Krieg anzuzetteln – und werden dann prompt wieder gewählt. Im Westen nichts Neues! Auch Hillary Clinton hat den demokratischen Sieg ihres Gegners im Rennen ums Präsidium nie wirklich anerkannt. Der Russe soll die Wahl gestohlen haben. Das wird ja eh zu einem Dauerbrenner.
Aber nicht nur im Westen läuft’s nicht rund. In unserer Demokratie würden sich Kräfte ausbreiten, die Autokraten bewundern (gemeint ist Putin). Auch das ist nichts Neues. Bereits Henri Guisan war voll des Lobes für Mussolini3, der nun auch nicht gerade das ist, was man als lupenreinen liberalen Demokraten bezeichnen würde. Die Erosionstendenzen in den demokratischen Staaten seien unübersehbar. Ängste vor dem sozialen Abstieg würden einen Stabilitätsanker der Demokratie bedrohen, das Wohlstandsversprechen nämlich. Trotz aller Zentrifugalkräfte im demokratischen System, würde es sich in Demokratien aber besser leben, das würden die Flüchtlingsströme belegen. Es scheint die Annahme etwas naiv, dass die verlorenen Seelen der Dritten Welt aufgrund von Referendums- und Initiativrecht in unser Land strömen. Es liegt eher daran, dass bei uns die Regale der Supermärkte voll sind. Selbst bei den Einheimischen scheint er ja Fluchttendenzen unter die Fittiche der, seiner Lesart nach, antidemokratischen Populisten auszumachen, wenn nicht mehr ganz so viele Güter aus diesen vollen Regalen gekauft werden können. Wir wollen hier nicht auf den reichlich vagen Begriff des Populismus eingehen. Viel interessanter ist doch, dass ein Altbundesrat den Wert der Demokratie zu grossen Teilen offenbar am Wohlstand misst, den sie angeblich generiert. Das ist wohl die Sicht eines Liberalen auf die Demokratie. Wir würden an der Demokratie doch eher loben, dass sie es zulässt, dass ein Volk sich selbst regiert und nicht unter einer Fremdherrschaft zu leben hat oder unter der Fuchtel irgendwelcher Oligarchen oder dekadenter Adliger. Die Demokratie ist das Versprechen der Selbstbestimmung für ein historisch gewachsenes, distinktes Volk, nicht das Wohlstandsversprechen einer amorphen Masse gegenüber, die durch stete Zuwanderung, die wir angeblich brauchen um unseren Wohlstand zu halten, immer noch heterogener wird. In der Tat braucht es, um eine Umkehr bewerkstelligen zu können und den Schaden der in den Demokratien angerichtet wird aufzuhalten den Einsatz derer, die noch an die Demokratie glauben. Das Sieht Kaspar Villiger durchaus richtig. An die Demokratie zu glauben heisst aber in erster Linie wieder an das Volk zu glauben und die Fragmentierung des Demos durch unkontrollierte Einwanderung zu stoppen.
Die dritte Täuschung der er erlag, so der Altbundesrat weiter, sei jene gewesen, dass Krieg als politisches Mittel langsam aussterben würde. „Mit dem Ende des Kalten Krieges schien die Wahrscheinlichkeit grosser Kriege weiter abzunehmen.“ Das von Fukuyama ausgerufene Diktum vom „Ende der Geschichte“ habe auch er nicht als falsch aufgefasst. Doch was zerstörte diese Illusion beim ehemaligen Magistraten? War es der völkerrechtswidrige Angriff der NATO auf Jugoslawien 1999? War es die völkerrechtswidrige Verwüstung des Irak durch die USA nach der Jahrtausendwende? Nein, „plötzliche wird unweit von uns ein blutiger Angriffskrieg geführt“ und das zerschmettert mit einem Streich alle Hoffnungen auf Frieden. „Das Fehlen einer leistungsfähigen demokratischen Ordnungsmacht ermutigt regionale Potentaten zur Auslösung zerstörerischer lokaler Konflikte“, so Villiger. Ein Zyniker würde diesen Satz so übersetzen. „Die liberaldemokratischen Amerikaner haben zu wenig Krieg geführt und der Drohung, ihre geostrategischen Interessen im Notfall auch mit Gewalt durchzusetzen, somit so wenig Nachdruck zu verliehen, dass nun regionale Potentaten auf die Idee kommen, es dem westlichen Hegemon gleich zu tun und ihre Interessen ihrerseits mit Gewalt durchzusetzen.“ Warnsignale hätte es zwar mit dem Tschetschenienkrieg und der Rückeroberung der Krim schon früh gegeben aber unter den europäischen Demokratien habe sich „eine Art kollektive Realitätsverweigerung“ ausgebreitet. Realitätsverweigerung scheint aber auch Herr Villiger nach wie vor zu betreiben. Wie begründet sich denn nach der Auflösung der Sowjetunion die stete Ausweitung der NATO in Richtung Russland, dem man noch dazu klar gemacht hat, dass es nie Teil der NATO werden würde? Man muss kein Fan Russlands sein und über Putin sollte man sich von nationalistischer Seite her keine Illusionen machen. Aber die Russen permanent für dumm zu verkaufen und das eigentlich seit den 90ern obsolete westliche Militärbündnis immer weiter gegen den „ehemaligen“ Gegner ausdehnen zu wollen, zeugt rein von amerikanischem Vormachtstreben, das Europa um die in Jahrzehnten einmalige Chance gebracht hat, mit dem Osten einen Ausgleich zu finden.
Zum Ende des Artikels hin meint Villiger dann doch, Wohlstandsverluste könne man durchaus in Kauf nehmen um die Verteidigungsfähigkeit der europäischen Demokratien wieder zu stärken, damit sie ihre Freiheit erhalten könnten. Es gibt also doch noch hehre Ideale in einer liberalen Demokratie als den Wohlstand. Und wenn es nur eine abstrakte Freiheit im Sinne des westlichen Hegemons ist. Eigentlich sollte aber für jeden aufrechten und klar denkenden Europäer klar sein, dass wir weder einen westlichen noch einen östlichen Hegemon brauchen. Europa ist sein eigener Hegemon.
„Obwohl Europa eigentlich alle kulturellen, demokratischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zutaten für einen Durchstart hätte, scheint die Fata Morgana der Besitzstandwahrung die Aufbruchkräfte zu lähmen“, so Villiger weiter, aber diesmal hoffe er tatsächlich, sich zu irren. Diese Aufzählung zeigt klar, dass er als Liberaler nicht fähig ist, biologische Kategorien mit zu berücksichtigen. Natürlich dominieren in europäischen Ländern die Besitzstandwahrer. Europa ist am überaltern und es wäre dumm, aufs Altenteil hin das erreichte zu riskieren. Zudem verstärkt zumindest Westeuropa mit seiner katastrophalen Einwanderungspolitik eigene dysgenische Effekte. Ohne dass man das Ruder herumreisst, reicht irgendwann die geistige Kapazität nicht mehr aus um nach den Sternen zu greifen. Was Europa braucht ist eine eigene Jugend, welche sich seiner kulturellen Wurzeln bewusst ist und sich nicht im Selbstzweifel suhlt. Europa braucht Universitäten, welche die Wissenschaftsfreiheit als höchstes Gut betrachten und nicht mit wokem Genderirrsinn ergebnisoffene Forschung zu ersticken versuchen. Und Europa braucht Demokratien, in welchen Meinungsfreiheit herrscht. Wo ein offener Austausch der Ideen möglich ist. Wo man nicht gewisse Problemanalysen schon per se als moralisch inferior zu verbieten versucht. Diese Denkverbote werden uns aber nicht vom Russen auferlegt, der angeblich die ganze Welt mit autokratischen Regimen überziehen möchte. Nein, diese Denkverbote werden teilweise mit freundlicher Unterstützung sich liberal bezeichnender Menschen implementiert, welche meinen, den Träger der Demokratie, das Volk nämlich, vor dem „Extremen“, also dem vermeintlich Bösen beschützen zu müssen.
1 https://www.fdp.ch/aktuell/blog/blog-detail/news/kvilliger-liberalismus-als-politische-vision
2 Alain de Benoist, Demokratei: Das Problem, 1986 Tübingen, S. 77.
3 https://www.srf.ch/news/schweiz/schweiz-und-faschismus-der-ehrendoktortitel-fuer-mussolini-aus-lausanne-war-kein-unfall