„Wer schlägt den Löwen, wer schlägt den Riesen, wer überwindet jenen und diesen? – Das tut der, der sich selber zwinget und all seine Glieder unter Obhut bringet.“
So singt Walther von der Vogelweide in einem seiner berühmten Lebenssprüche aus dem Mittelalter. Selbstbeherrschung ist also ein uralter Wert, der mit einer bewussten Vorgehensweise ausgeübt werden soll. Er bedeutet zuerst, seine Seele integral durch die weise Obhut der Vernunft handeln zu lassen, die auch den Körper umfasst. Der Körper ist die leibliche Form der Seele, die Vernunft die Krone des Geistes, aber sie neigen dazu, ein Eigenleben zu führen und ihre Ansprüche bar jeder Vernunft, der Einsicht und dem besseren Wissen gegeneinander durchzusetzen. Daher kann man auch an der eigenen Kontrolle über den Körper und an der Deutlichkeit der Selbstwahrnehmung feststellen, ob man eine unsichere Seele, einen verkümmerten Körper oder einen schwachen Willen hat. Nur wer alle seine Glieder, seine seelischen Anteile und leiblichen Wünsche eben unter die Obhut seiner des von der höheren Vernunft bestimmten Willens bringt, kann als wahrer Mensch leben. Sonst bleibt dieses Wesen, dass sich Mensch nennt, ein halbes Tier, willenlos, irrational und seelenlos den eigenen Trieben ausgeliefert. Darauf basiert die Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung des Menschen.
Dabei gilt es, auf die Stimme der eigenen Seele zu hören, denn auch die Vernunft kann durch Beeinflussung z. B. zu Einseitigkeit und Gleichförmigkeitsideen neigen, die der individuellen Anlage nicht entsprechen oder durch Übertreibung gar schaden. Es gilt, die weise Balance zu finden, zwischen den individuellen Möglichkeiten, den höheren Ansprüchen und den beabsichtigten Zielen und dem Willen zur Umsetzung und der nötigen Disziplin. So kann sich hinter der einseitigen Priorisierung des Willens ein Relikt der christlichen Körperfeindlichkeit verbergen, genauso wie durch Nachlässigkeit und Leben nach dem Lustprinzip der Lebenssinn verfehlt werden kann, denn manch gute Entscheidung bereitet nicht immer oder sofort nur Spass, sondern bringt auch Härten und Widerstände mit sich. Jeder muss also seine innere Stimme und höhere Vernunft befragen, ob in seinem Körper eine gesunde Seele wohnen kann, obgleich unser menschliches Leben im Vergleich zu den Tieren in der Natur z. B. durch einseitige Arbeit, durch Aufenthalt in künstlichen Räumen und die Beschäftigung mit nichtigen Dingen und verheerende gesellschaftliche Moden und Vereinzelung von sich selbst entfremdet werden kann.
Der Mensch ist ein Wesen, das aus der Tierreihe stammt, einen Tierkörper hat. Er hat daher viele der Eigenschaften behalten, welche das Tier besitzt, z. B. einen starken, dynamischen Lusttrieb ohne die Oberherrschaft eines bewussten Willens. Während Tiere seit Millionen von Jahren im Allgemeinen sehr erfolgreich instinktgetrieben leben, unterliegt der Mensch erst seit wenigen zehntausend Jahren durch seine Gehirnentwicklung dem freien Willen, nach seelischen und vernünftigen Gesichtspunkten zu handeln und zu entscheiden oder nicht. Menschen, die ihren Trieben oder irrationalen bis manipulierten Ideen wehrlos unterliegen, nutzen nicht ihr volles Potential als Menschen. Bei Menschen, die in ihrem vollen Potential leben, unterstehen Wille und Trieb der Leitung der Seele und der Vernunft, und sie sind daher massvoll im Handeln und mässig beim Genuss. Leben wir als Mensch nicht unser ganzes menschliches Spektrum, sind wir in gewisser Hinsicht eingeschränkter als das Tier, weil wir um das Übermass und Unmass des Genusses oder der Verleugnung unseres Lebensweges wissen und trotzdem dem übermächtigen Verlangen unterliegen oder gesunde Verhaltensweisen mit einem destruktiv wirkenden Willen ausschalten und übersteuern.
Goethe sagte von einem solchen Menschen, dass er die Vernunft missbraucht: „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein.“ Man denke hier auch an die Zuwiderhandlung gegen das natürliche, ethische Gefühl, das z. B. durch Ideologien gegen sich selbst und andere ausarten kann, die „Rationalisierung“ und Rechtfertigung schlimmster moralischer Vergehen im Sinne von: Der Zweck heiligt die Mittel.
Selbstbeherrschung und Selbsterkenntnis sind hohe Werte für den Menschen im Vollbesitz seiner Möglichkeiten. Die ungeheure Masse amorpher Bevölkerungsanteile hingegen, – gereizt von den Verführungen der Städte, dem zügellosen Geniessenwollen, dem Missbrauch von Dingen, die dem Menschen zur massvollen Steigerung und Verfeinerung angeboten werden, – konsumiert heute die Angebote jener Industrien, die es auf hohe Gewinne abgesehen haben. Die Massen ertränken, angetrieben durch das unheilvolle Vorbild in Film, Medien und Fernsehen, ihr Gewissen und ihren Verstand, ihre Einsicht und ihren guten Willen in Alkohol, berauschen sich an Genussgiften und gewöhnen sich an gefährliche Süchte, zu denen schon das Rauchen, vielmehr aber noch die härteren Drogen gehören. Sie geben sich schädlichen, ihre Selbstbestimmung noch mehr zerrüttenden Gewohnheiten hin, die sie eines Tages in Verbrechen, sicher aber in Entfremdung von sich selbst, Krankheit und frühen Tod führen.
Der gesunde Mensch ist auch der seelenvolle, willensstarke Mensch, der einsichtige, der selbstbeherrschte, der von seinem gesunden Menschenverstand und seinem individuellen Wesen geleitete Mensch. Er verschmäht und meidet alle Versuchungen, die ihn von seinem Lebensweg abbringen könnten, denn er braucht keine sogenannte Erweiterung seiner Persönlichkeit durch KI-Ersatzwelten, materialistischen Rausch und Taumel, fehlgeleitetes Selbstvergessen und illusionäre Selbstvergewisserung. Selbsterkenntnis, Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung gehen hier in eins, sie werden zu einer Einheit, welche die Vorbedingungen zu echtem Menschentum ist. In allen Lebenslagen ist dies das Eigengebot des Freien, der für sich selbst mit seiner Seele, Einsicht, Vernunft und Erkenntnis entscheidet, was er tun darf und tun soll. Dies schaffen wir aber nicht immer nur allein, sondern meist zusammen mit gleichgesinnten Menschen, welche uns vor der Isolation und gesellschaftlich forcierten Atomisierung bewahren und soziales Lernen und gemeinsame Motivation ermöglichen.