Achtsamkeit und Rücksichtnahme

In den Beziehungen untereinander sind wir rücksichtsvoll und achtsam. Da jeder die Persönlichkeit des anderen schätzt und achtet, tritt er ihm weder zu nahe, noch kränkt er ihn in seinen Gefühlen. Er achtet darauf, in welcher Lage sich das Gegenüber befinden mag, und stellt sich in Haltung und Wortgebrauch darauf ein. Dies nennen wir Achtsamkeit. Wer eine solche Haltung von sich aus zwangslos und natürlich verkörpert, braucht darüber keine Belehrung. Es gibt aber auch Naturen, die übersprudeln und naiv dazu neigen, unbedacht Dinge zu äußern oder Vorstellungen auszusprechen und Meinungen zu vertreten, welche den anderen verletzen können, ohne dass eine böse Absicht dahintersteht. Diese müssen – schon recht früh, also in Kindheit und Jugend, – dazu erzogen werden, ihr Verhalten den Geboten der Rücksichtnahme anzupassen und sich nicht allzu frei und ohne Rücksicht auf mögliche Folgen zu äußern. Dies mag schwerfallen. Es setzt auch dem unbefangen-natürlichen Trieb eine Grenze, sich jederzeit freimütig auszusprechen und seine eigene Meinung achtlos zu vertreten.

Jedoch sollen diese mahnenden Worte nicht bedeuten, man solle sich nicht frei zu sachlichen Fragen oder weltanschaulichen Problemen äußern. Achtsamkeit und Rücksichtnahme sind vor allem dann geboten, wenn der andere persönlich in seinen Empfindungen an der Grenze seiner inneren Festigkeit berührt werden kann. Daher sollte jeder Gesprächsteilnehmer ein Empfinden dafür entwickeln, nur Themen zu behandeln, die ohne Verletzung anderer erörtert werden können. Man nennt das Gespür für solche Lagen und die persönlichen Empfindlichkeiten von Menschen auch Taktgefühl. Jedoch bezieht sich dieses nicht nur auf sittliche und gesellschaftliche Umgangsformen, sondern ebenso sehr auf die Achtung der inneren Gefühle des anderen Menschen.

Ein Dichter, der uns in seinem heidnischen Wesen sehr nahesteht, Theodor Storm, hat das Verhältnis von Rücksichtnahme und Rücksichtlosigkeit in einem Spruch treffend gekennzeichnet:

Blüte edelsten Gemütes
ist die Rücksicht; doch zu Zeiten
sind erfrischend wie Gewitter
Goldne Rücksichtslosigkeiten.

Dieser Ausspruch und die innewohnende Mahnung beziehen sich auf normale, gesunde, verantwortungsfähige Menschen, die die Wahrheit, die ein anderer ausspricht, vertragen können. Sie soll der muffigen Atmosphäre bürgerlichen Verschweigens von unangenehmen Dingen einen Dämpfer versetzen, und Storm war der rechte Mann dafür, um etwas Derartiges zu sagen, war er doch selbst von feinster Gemütsart und legte im persönlichen Bereich eine ausgesprochene Rücksichtnahme an den Tag.

Hingegen ist auf dem Gebiet der sittlichen und weltanschaulichen Klärung äußerste Deutlichkeit und Eindeutigkeit Gebot und Gesetz. Die geistigen Probleme unserer Zeit können nur in voller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit bewältigt werden, auch wenn es vielen interessierten Kreisen von Links und Rechts nicht gefällt, dass ihre Tabus, – die Unberührbarkeiten ihrer Programme, – verworfen, durchlöchert und unwirksam gemacht werden. Mit Links oder Rechts meinen wir hier keine politischen Parteien oder Gruppen, sondern weltanschauliche Haltungen und Programme zwischen fortschrittlich-illusionshaft und konservativ-reaktionär.

Eine ehrliche und „totale“ Aussprache haben nur diejenigen zu scheuen, welche sich zu ihren wahren Zielen, wie z. B. der anarchistischen Diktatur, nicht offen bekennen können und wollen, weil sie ihre Entlarvung fürchten. Jede ehrliche Weltanschauung aber muß sich der allgemeinen, offenen, demokratischen Erörterung stellen, sonst kann die Annahme gelten, dass sie unwahr und verlogen sein könnte.