Die offene Gesellschaft – oder die wundersame Welt des Aladin El-Mafaalani

Stellen sie sich vor, sie starten eine Unternehmung die in einem Fiasko endet. Was tun sie um zu retten was eigentlich nicht mehr zu retten ist? Erklären sie das Fiasko zum Ziel der Unternehmung und die ganze Operation somit als gelungen. Wenn sie diesen intellektuellen Salto auf den Füssen landend absolvieren können, dann befinden sie sich in der Welt des Soziologen Aladin El-Mafaalani. Aber der Reihe nach:

In der NZZ am Sonntag vom 15.9.2018 erschien ein Interview mit besagtem Soziologen, in dem es um die Proteste in Chemnitz, die Integration von Ausländern und die offene Gesellschaft im Allgemeinen ging. El-Mafaalani sieht die Gegenwart wie die Zukunft Europas rosig. Die Aufgeheizte Stimmung in Deutschland bezüglich Chemnitz, Özil oder Sarrazins neuem Buch sei ein Resultat der offenen Gesellschaft, „in der alles verhandelt werden muss“. Negativ sei dies nicht. Das komme davon, wenn mehr Personen auf Augenhöhe miteinander diskutierten und ganz allgemein lebe man doch in der besten aller Zeiten. „Die europäischen Demokratien hatten nie eine bessere Zeit. Das klingt vielleicht seltsam, weil viele Antidemokraten in den Parlamenten sitzen, ist aber empirisch trotzdem so.“ Schon bei der dritten Antwort hat sich der Soziologe also demaskiert und zum Vorschein kommt sein durch und durch linksliberales Gedankengut. Antidemokraten? Wen meint er damit? Der Fragesteller hakt nicht nach, man begegnet sich scheinbar auf „Augenhöhe“ und weiss wer gemeint ist. Denn wenn man in Europa gemäss El-Mafaalani in puncto „Frauenrechte, Diskriminierung von Homosexuellen oder der Integration von Muslime[n]“ noch nie weiter war als heute, dann dämmert es einem, dass mit den Antidemokraten nicht etwa irgendwelche EU-Granden gemeint sein können, die Abstimmungen nur dann akzeptieren, wenn sie zu ihren Gunsten ausfallen, sondern, dass mit Antidemokraten diejenigen gemeint sind, die (tatsächlich oder eingebildet) gegen Frauenrechte, Homosexuelle oder Muslime sind. Sprich: AfD, FPÖ, SVP, Orban, Salvini oder wie all die Parias unter den europäischen Parteien und Regierungschefs heissen. Somit setzt der syrischstämmige Soziologe gleich einen schönen Rahmen: Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, nein, sie wird gleich noch zu einer Ideologie erklärt, deren Normen offenbar nur die entsprechen, welche ein universalistisches Gedankengut vertreten. Rechte können offenbar per definitionem keine Demokraten sein. So betrachtet sind alle Demokratien in der westlichen Welt die längste Zeit ihrer Existenz gar keine Demokratien gewesen.

Auf die Frage, ob denn gesellschaftliche Harmonie gar nicht das Ziel sei, sondern mehr Streit, antwortet er:

Wieso sollte es gerade jetzt harmonisch werden? Wenn Integration gelingt, wird die Gesellschaft nicht homogener oder weniger rassistisch. Das ist ein Trugschluss. Konflikte entstehen, weil die Gesellschaft zusammenwächst und die Menschen ihre Bedürfnisse äussern: Feministinnen streiten mit Musliminnen, die sich wiederum gegen andere wehren – das ist auch gut so. Mehr Streit ist nicht das Ziel, sondern vielmehr das Ergebnis einer zunehmenden Öffnung. Dauerhafte Harmonie kenne ich nur in Diktaturen, religiösen Sekten und in autoritär geführten Familien. Der Konflikt ist das, was unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält.“

Konnten sie dem Salto folgen ohne dass ihnen schwindlig wurde? Harmonie ist also etwas Schlechtes! Wenn die geneigte Leserin also eine dauerhaft harmonische Beziehung führt, dann ist ihr Gatte wahrscheinlich ein autoritäres Arschloch. Wenn eine Gemeinschaft grösstenteils harmonisch ist, so muss es sich dabei um eine Diktatur handeln. Der Streit sei nicht das Ziel, aber eine Begleiterscheinung auf dem Weg des Zusammenwachsens. Aber was ist das Ziel dieses Zusammenwachsens, des Eins-Werdens? Denn das ist es ja, was „Zusammenwachsen“ bedeutet. Aus mehreren Teilen wird einer. Eigentlich nähme man an, dass am Ende eines solchen Prozesses Harmonie herrscht. Denn für einen Konflikt braucht es ja immer mindestens zwei Kontrahenten. Das Problem ist nur, verschwindet der Konflikt aus der Welt, so wird Mafaalanis Gesellschaft ihrem Kitt beraubt und bricht auseinander. Das wäre die eine Variante. Das andere Problem ist, dass eine harmonische Gemeinschaft gemäss dem Soziologen eine diktatorische Gesellschaft sein muss, was auch nicht sein Ziel sein kann. Es soll also etwas zusammenwachsen und trotzdem in stetem Konflikt zueinander stehen? Das wäre dann wohl so etwas wie eine schizophrene Gesellschaft. Wenn aber der Streit nicht das Ziel, der Konflikt aber das ist was die Gesellschaft im Kern zusammenhält, dann ist also gar kein irgendwie gearteter gesellschaftlicher Zusammenhalt erwünscht? Alle gegen alle oder zusammenwachsen – beides geht nicht. Man kann es drehen und wenden wie man will; diesen Salto kann man nicht stehen.

Mafaalanis Grundthese könnte man so zusammenfassen: Die Öffnung der Gesellschaft bringt mehr Streit, deshalb ist Streit etwas Gutes, weil er als Indikator für eine offene Gesellschaft dient. Wenn darüber gestritten wird, ob eine Lehrerin ein Kopftuch tragen darf oder nicht, dann ist das kein Rückschritt sondern ein Fortschritt, denn wenn bisher nicht darüber gestritten wurde, heisst das nichts anderes, als dass es keine Lehrerinnen mit Kopftuch gab. Was das nun aber den Einheimischen bringen soll, darüber schweigt er sich grösstenteils aus. Die Öffnung der Gesellschaft gleiche einer Bergwanderung, bei der man auf halber Strecke wegen all der Strapazen schon mal denke, wäre man doch besser im Tal geblieben. Die Welt werde halt unübersichtlicher, das sei der Preis der offenen Gesellschaft. Aber das macht nichts: „Tatsache ist, dass wir eine gesellschaftliche Öffnung erreicht haben, die wir immer schon erreichen wollten.“ Wer dieses wir ist, das schon immer eine gesellschaftliche Öffnung wollte, das führt der Soziologe nicht aus. Es gibt eine Menge Leute, die wollen diese Öffnung nicht, und sie wollten sie gar nicht „schon immer“. Für wen spricht er? Für Einwanderer wie ihn?

Neu ist das, was uns der syrischstämmige El-Mafaalani erzählt nun auch wieder nicht. Der allseits bekannte Grüne (oder eher Rote) Daniel Cohn-Bendit erklärte schon vor einem guten viertel Jahrhundert:

Das heißt aber gerade nicht, dass die multikulturelle Gesellschaft harmonisch wäre. In ihr ist vielmehr – erst recht dann, wenn sich wirklich fremde Kulturkreise begegnen – der Konflikt auf Dauer gestellt. Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und kennt Wanderungsgewinner ebenso wie Modernisierungsverlierer; sie hat die Tendenz, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen. In der multikulturellen Gesellschaft geht es daher um die Gratwanderung zwischen verbindenden und trennenden Kräften – und eben deswegen ist es so wichtig, dass sie sich Spielregeln gibt.“1

Wer nun meint, Cohn Bendit sei deshalb gegen Einwanderung, der irrt gewaltig. Einwanderung ist gemäss seinem Text, aus dem obiges Zitat stammt eine Tatsache, gegen die man nichts machen kann. Lernt damit zu leben! Aber das ist reine Heuchelei, wenn man sich anhört, was Cohn-Bendit zu sagen hat, wenn bspw. Ungarn seine Grenzen nicht für Flüchtlinge öffnen und sein Land den Magyaren erhalten will:

Ihr wollt keine Flüchtlinge? Einverstanden! Dann nehmen wir euch 30 Prozent der europäischen Unterstützung für die Landwirtschaft, für eure Bauern, und das tun wir in einen Flüchtlingsfond. Das ist doch gerecht. Ihr wollt nicht daran teilnehmen – das ist euer gutes Recht! Auch Herr Orban! 30, 40 Prozent weniger der Strukturfonds. Ihr dürft egoistisch sein. Aber wir brauchen das Geld um solidarisch zu sein.“2

Plötzlich ist da nicht mehr viel zu spüren von der These, dass Einwanderung einfach unabwendbar ist und man nur lernen müsse, damit sinnvoll umzugehen. Wenn es europäische Staaten gibt, die sich einer solchen Logik erfolgreich widersetzen – was ja der beste Beweis gegen die Unabwendbarkeit des Phänomens ist – wird politischer Druck ausgeübt. Wir können also hinter den Konzepten des Multikulturalismus und der offenen Gesellschaft viel eher eine Agenda vermuten, als einen blossen Versuch, mit den Phänomenen einer modernen Welt sinnvoll umzugehen.

Aber zurück zu Mafaalani: Ob sich der Stress denn überhaupt lohnen würde, den eine offene Gesellschaft mit sich bringe, fragt die NZZ: „Auf jeden Fall. Das Konzept der Öffnung ist bei allen Schwierigkeiten ein Erfolg, sowohl wirtschaftlich als auch demokratisch.“ Inwiefern die Demokratie profitiert, wenn sich die Gesellschaft fragmentiert, wenn nicht mehr ein Volk sich selbst regiert und nach den besten Lösungen für die Aufgaben sucht, die sich ihm stellen, sondern der Staat in einem multiethnischen Dauerchaos ersäuft, wo nur noch alle Gruppen möglichst viel für sich herauszuschlagen und ihre gegensätzlichen Sichtweisen durchzudrücken versuchen, das ist ein Rätsel. Die Demokratie profitiert nur dann von der offenen Gesellschaft, wenn man sie, wie El-Mafaalani dies tut, mit Linksliberalismus gleichsetzt. Wir erinnern uns, es gibt ja diese Antidemokraten in den europäischen Parlamenten (er hätte genauso gut „diese Rechten“ sagen können). Aber dieses „mehr an Demokratie“ ist dann ein reiner Selbstzweck, ein Zirkelschluss quasi: Offenere Gesellschaft = mehr Demokratie = mehr Linksliberalismus = offenere Gesellschaft.

Wenn man etwa die Freiheit der Rede als eine Grundvoraussetzung der Demokratie betrachtet, wie das die „Erfinder“ der Demokratie im alten Athen taten (das im Übrigen alles andere als eine offene Gesellschaft war) dann stellen wir heute fest, dass genau diese Freiheit immer mehr eingeschränkt wird, etwa zum Schutze von Minderheiten, die sich verletzt fühlen könnten durch die Ansichten von jemandem aus der (noch) Mehrheitsgesellschaft.

Warum es zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen soll, wenn es Lehrerinnen mit Kopftuch gibt, oder Homosexuelle heiraten dürfen, erschliesst sich einem nicht, einmal von den paar Hochzeitstorten abgesehen, die mehr verkauft werden dürften. Aber man spürt hier natürlich den Gleichschritt der Linken und der Kapitalisten heraus: Die einen wollen offen Grenzen aus humanitären Gründen, die anderen aus wirtschaftlichen. Der Mensch soll genauso wie die Waren zur freien Verschiebemasse werden, damit sich alles in ein Wirtschaftssystem einfügen kann, wo nur noch der Profit ein paar weniger der Massstab aller Dinge ist. Denn all die unproduktiven Kräfte die durch die Öffnung von Grenzen angezogen werden, die werden von der Allgemeinheit getragen, nicht von den einzelnen Profiteuren, die es ja tatsächlich auch gibt.

Aladin El-Mafaalani jedenfalls sieht sich und die offene Gesellschaft auf der Siegerstrasse der Geschichte. Wenn alles immer besser werde, dann könnten Populisten ja eigentlich nichts mehr sagen, so der Soziologe. Wie etwa in Kanada, das gerade die beste Zeit seiner Geschichte erlebe. Nur, was ist das, die beste Zeit in Kanadas Geschichte? Das höchste Bruttoinlandsprodukt etwa?

Der kanadische Premier bezeichnet sein Land als „erstes postnationales Land“, als ein Land „ohne Kernidentität“3. Eine Definition die Mafaalani gefällt. Andernorts4 lobt er den kanadischen Verfassungsleitspruch „Einheit in Vielfalt“. „Also Vielfalt ist die Stärke des Landes, steht da überall geschrieben. Wir sind stark weil wir vielfältig sind [Eine Lüge wird auch nicht wahr, weil man sie in die Verfassung schreibt, d.Verf.]. Im Übrigen steht da nicht drin, wann man Kanadier ist. Also nicht bezogen auf Eigenschaften, sondern wenn man da ist. Wenn man da ist und das Land liebt, dann ist man Kanadier, so einfach ist das.“ Danach erwähnt er eine Rede Justin Trudeaus, die er vor syrischen Flüchtlingen hielt, als diese Kanada erreichten, die er gemäss dem Soziologen mit folgenden Worten beendete: „Und ich würde mir wünschen, wenn sie alle Kanadier werden würden.“5 Widerspruch reiht sich bei den Trudeaus und El-Mafaalanis dieser Welt an Widerspruch. Wenn man Kanadier ist, sobald man in Kanada lebt, einzige Bedingung sei, man müsse das Land lieben (was ja sehr vage ist), es in Kanada keine Kernidentität gibt, in welche man sich integrieren müsste und keine nationale Zugehörigkeit welche den Kanadier definiert, dann sind die syrischen Flüchtlinge ja in dem Moment wo sie in Kanada landen Kanadier und müssen es nicht erst noch werden. Ein kanadischer Pass dürfte da nur noch Formsache sein. Kanada definiert sich neuerdings also darüber, dass es undefiniert ist. Das entspricht dann dem Wunsch des französischen Dekonstruktivisten Jaques Derrida, der von einer Gemeinschaft ohne Identität träumte, ohne nativistische Abgrenzung und so weiter.6 Glauben diese Leute wirklich, eine Staat, eine Gemeinschaft könne funktionieren, in dem sie sich darüber definiert, dass sie nicht definiert ist, dass jeder dazugehört, ohne dass irgendwelche Gemeinsamkeiten vorhanden wären, ausser dass man zufälligerweise im gleichen Verwaltungsbezirk (ehemals Nationalstaat genannt) lebt, in die selbe Steuerkasse einbezahlt und jegliche gesellschaftlichen Werte immer wieder neu verhandeln muss?

Bleiben wir einen Moment jenseits des Atlantiks, im von Aladin El-Mafaalani so geschätzten vielfältigen Kanada. Dort wurde unlängst ein Stadtpark in Winnipeg nach Muhammad Ali Jinnah benannt. Jinnah war so etwas wie der Gründungsvater Pakistans. Von den örtlichen Politikern wurde die Benennung des Parks natürlich als ein grossartiges Symbol und ein Schritt dahin gewürdigt, dass die kulturelle Vielfalt im Lande Hand in Hand mit einer gerechten Gesellschaft laufe.7 Pakistans Hochkommissar in Kanada weihte den Park ein:

In seiner Ansprache lobte der Hochkommissar die lebhafte pakistanisch-kanadische Gemeinschaft in Manitoba dafür, dass sie erfolgreich den ersten Park in Nordamerika überhaupt nach Mohammed Ali Jinnah benennen konnten, dem Gründer Pakistans.

Er sagte, dies sei der Moment für uns, den grossen Opfern Tribut zu zollen, welche die Gründungsväter Pakistans erbracht haben, um ein separates Heimatland für die Muslime auf dem [indischen] Subkontinent zu schaffen.“8

Da wird also im „undefinierten“, „postnationalen“ „vielfältigen“ Kanada zum Zeichen des erfolgreichen multikulturellen und multirassischen Projekts ein Park nach einem fremden Staatsoberhaupt benannt, das sich dadurch auszeichnete, einen Landesteil abzuspalten um ein klar definiertes Heimatland für Muslime zu schaffen. Jinnah steht also für das komplette Gegenteil von dem, wofür das moderne Kanada gemäss linken Politikern und Soziologen stehen soll. Sezession nicht Integration! Der Hochkommissar spricht ebenfalls von der pakistanischen Gemeinschaft in Kanada. Es entsteht dort also nichts Neues, das sind keine Kanadier, das sind Pakistanis in Kanada die ihren eigenen Nationalhelden frönen. All das Gedöns von Multikulti, offener Gesellschaft und postnationaler Identität kann nicht überdecken, womit wir es hier eigentlich zu tun haben: Einer Landnahme fremder Völker und der Verdrängung der Einheimischen Kanadier.

Wer immer noch nicht bemerkt hat, wohin die Reise geht, dem sei noch gesagt, dass die kanadische Stadt Victoria die Statue eines kanadischen Gründervaters, Sir John A. Macdonald, seines Zeichens erster Premier von Kanada und somit Antipode von Muhammad Ali Jinnah, entfernt hat. Um noch einmal klar festzuhalten was dort vor sich geht: In Kanada wird die Statue des ersten kanadischen Premiers entfernt, während ein Park nach dem ersten pakistanischen Premier benannt wird! Begründung; unter Macdonald sei auch das Schulsystem eingeführt worden, welches indianische Kinder von ihren Familien getrennt hat. Dass Licht auch Schatten werfen kann, das ist zu viel für diese Bilderstürmer. Solche Spannungen können sie nicht aushalten. Historische Personen, welche auch Seiten hatten, die sich nicht mit ihrem linksliberalen Weltbild in Einklang bringen lassen, müssen verschwinden. Vorausgesetzt es sind Weisse. Die Teilung Indiens forderte damals Hunderttausende Tote und Millionen wurden vertrieben. Der Würdigkeit Jinnahs als Namenspatron eines Parks in Kanada tut dies keinen Abbruch.

In puncto „böse weisse Männer“ hat El-Mafaalani eine differenziertere Sichtweise. Das Feindbild des weissen Mannes sei zu einseitig. „Vergessen wir nicht, dass es auch weisse Männer waren, die die gesellschaftliche Öffnung mit anschoben.“ Danke! Weisse Männer werden nicht in Bausch und Bogen verdammt, weil es einige unter ihnen gab, welche ihre eigene Marginalisierung mit anschoben. Cohn-Bendit und Karl Popper, der mit seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde so etwas wie der ‚Godfather‘ der offenen Gesellschaft ist (vom interviewten Soziologen aber nicht einmal erwähnt wird) dürften sich selbst allerdings kaum zu dem rechnen, was man heute als „den weissen Mann“ bezeichnet.

Gegen Ende des Interviews kommt der neodeutsche Soziologe für einmal etwas nahe, was man Wahrheit nennen könnte. Auf die Frage, ob er denn kein Verständnis habe für Leute, die sich abgehängt fühlten, antwortet er: „Natürlich gibt es Verlierer. Wenn sich die Teilhabechancen für einige erhöhen, sinken sie für andere. Es herrscht eine neue Konkurrenzsituation. Ehemals Privilegierte fühlen sich heute ökonomisch an den Rand gedrängt. Dann gibt es andere, denen geht es finanziell gut, aber sie fühlen sich kulturell bedrängt.“ Was er hier sagt, ist doch letztlich nichts anderes, als dass die offene Gesellschaft gar keinen allgemeinen Mehrwert bringt. Der Kuchen wird neu verteilt, aber nicht grösser. Dass so betrachtet die Einheimischen tendenziell auf der Verliererseite, die Einwanderer eher auf der Gewinnerseite stehen (ob nun kulturell oder finanziell) scheint logisch. Denn jeder Neuankömmling am Tisch hat – auf Kosten derjenigen die schon da sitzen – die Chance auf einen Teil des Kuchens, welche er vorher nicht hatte.

Was hier ein Interview lang mit schönen Worten wie „offene Gesellschaft“, auf „Augenhöhe begegnen“ oder „Aushandeln gemeinsamer Werte“ bemäntelt wird, ist letztlich nichts anderes als die Verdrängung der Einheimischen und ihrer angestammten Kultur. Denn aus Mafaalanis Worten wird klar, dass die offene Gesellschaft keine ergebnisoffene Gesellschaft sein kann. Man könnte beim Aushandeln der gemeinsamen Werte letztlich doch auch zum Schluss kommen, die überkommene Kultur oder ethnische Zusammensetzung, beispielweise Deutschlands, sei doch ganz passabel gewesen und man würde sie gerne beibehalten. Das lässt der Soziologe aber bekanntlich nicht gelten. Denn wer so denkt ist, wie man aus der Befragung heraushört, ein „Antidemokrat“, „Rassist“ oder „Nazi“, kurz, ein Feind der offenen Gesellschaft.

Wir verzichten gerne auf Aladin El-Mafaalanis offene Gesellschaft. Denn ausser dem Plus an Wohlstand, das sie angeblich bringt (eine Behauptung seinerseits, die wohl nicht zu halten ist, denn die Öffnung der Gesellschaft folgte ja den enormen wirtschaftlichen Wachstumsraten in der Nachkriegszeit und nicht umgekehrt und wurde vielleicht durch diese erst ermöglicht9), erzeugt sie doch ansonsten hauptsächlich, wie er selber zugibt, nur mehr Stress, Rassismus, Unübersichtlichkeit, hitzige Debatten, weniger Harmonie, Streit, Konflikte usw. Wenn wir deswegen von unserem syrischstämmigen ‚tough guy‘ als Weicheier und Angsthasen bezeichnet werden sollten, dann müssten wir das wohl „aushalten“. Das werden wir überleben, als Individuen und als Volk; die offene Gesellschaft hingegen nicht.

1 https://www.zeit.de/1991/48/wenn-der-westen-unwiderstehlich-wird/komplettansicht

2 http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/ist-die-idee-von-europa-gescheitert-100.html

3 https://www.eurocanadian.ca/2017/10/book-review-canada-in-decay-by-ricardo-duchesne.html

4 https://www.youtube.com/watch?v=GS5fRa8ciI4

5 Ebd.

6 Caputo 1997, S. 231 – 232, zitiert nach MacDonald, Kritik, S. 297.

7 https://muslimlink.ca/news/winnipeg-jinnah-park-maxime-bernier-controversy

8 https://tribune.com.pk/story/1709321/1-jinnah-park-inaugurated-canada/

9 Dass sich „die Lebensbedingungen […] auch für Ostdeutsche verbessert“ hätten, wie er sagt, ist auch so eine Nebelpetarde. Denn inwiefern soll das mit einer gesellschaftlichen Öffnung zu tun haben, wie sie El-Mafaalani skizziert? Wir erinnern uns, die DDR war eine Planwirtschaft und der BRD wirtschaftlich unterlegen. Wenn es denn Ossis heute besser geht als ein paar Jahre nach der Wende, dann darum, weil sie heute länger unter einem marktwirtschaftlichen System arbeiten, das – wie die Geschichte zur Genüge gezeigt hat – schlicht effektiver ist als eine starre Planwirtschaft. Mit Kopftuchtragenden Lehrerinnen, Schwulen die heiraten dürfen und akzentfrei sprechenden syrischen Flüchtlingskindern hat das herzlich wenig zu tun.