Zur Geschichte des olympischen Gedankens

Olympia, mit seinem Wortstamm hindeutend auf den wolkenverhangenen Götterberg der Griechen, von dem einst der Höchste, Mächtigste niederstieg, um auf der Peloponnes zwischen dem Alpheios und der Kladeosmündung die heiligen Spiele unter seinem Schutz zu stellen, diese Stätte, uns als Olympia bekannt, ist der Ausgangspunkt der völkerverbindenden Spiele von heute.

Achtzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gingen dahin und nach dem zweiten sogar siebenundzwanzig, ehe der Austragungsort dieser Wettkämpfe deutschen Boden zugestanden wurde. Und doch wissen die Gebildeten in aller Welt, daß außer den Griechen kein Volk ein größeres Recht auf die Olympischen Spiele hat als das deutsche.

Schon seit Winckelmanns Wiederentdeckung der Antike und Goethes griechischen Studien, ja, bereits zwischen seinem Dramenkonzept zum „Prometheus“ und Hölderlins „Hyperion“ hatten hochgesinnte deutsche Männer und Frauen ernsthaft erwogen, wie die alten heiligen Spiele zu beleben sein. Und es blieb in der Folgezeit nicht bei traumhafter Schau.

Noch ist seit Goethes Tod kein volles Jahrzehnt vergangen, da steht, verstaubt und ein wenig ausgemergelt von den wochenlangen Ritten durch Griechenland, ein junger Mann auf der Altis von Olympia; er schaut und schaut. Er hat Trümmer erwartet, umgestürzte Säulen und halbzerstörte Bildwerke, Spuren von dem Glanz einer vergangenen Zeit; aber nicht ein Spuren findet er. Olympia hat sich versteckt in jahrtausendalten Schutt und Schlamm des Klaedos. Allein der Ölbaum ist geblieben, silbern und knorrig.

Der junge Mann kommt aus Lübeck, er heißt Ernst Curtius, ist Student der Philologie und Archäologie, fünfundzwanzig Jahre alt und seit zwei Jahren Hauslehrer in Athen. Er hat seine Ferien benutzt, um Griechenland kennenzulernen. Eifrig hat er dem Pausanias studiert, und von Pindars Siegesgesängen, die er liebt, weiß er ganze Seiten auswendig. Beide haben ihm in der Phantasie Olympia mit lebendigen Gestalten erfüllt. Aber jetzt, da er endlich hier ist, muß er sich fast gewaltsam seine olympischen Vorstellungen wieder in Erinnerung bringen. Olympia, so wie es jetzt aussieht, steht dem Inbegriff der Olympischen Kunst und der Olympischen Spiele sehr fern.

Trotzdem ist die Begegnung mit dem verlassenen Heiligtum am Fuße des Kronoshügels für Ernst Curtius entscheidend; denn während er sich umwendet, um weiterzuziehen, und die Hufe des Pferdes auf den Bohlen der kleinen Holzbrücke klappern, die über den Klaedos führt, durchfährt Curtius der Gedanke: Man müßte die Tempel und Bilder wieder ausgraben, man müßte Olympia zu neuem Leben erwecken. Und dieser Gedanke läßt ihn sein Leben lang nicht mehr los.

1841 kehrt Curtius nach Deutschland zurück, beendet seine Studien, wird Erzieher des späteren Kaisers Friedrich und endlich Dozent an der Universität Berlin. Griechenland sieht er nicht wieder. Doch am 10. Januar 1852 tritt er auf das Podium der Berliner Singakademie und erzählt seinen Zuhörern von Olympia. Er beginnt mit der Geschichte von Herodot, in der jener die Griechen bei den Olympischen Spielen schildert, während die Perser an der Landesgrenze stehen. Die Worte des jungen Gelehrten zünden. Er spricht zwei Stunden lang, ohne auch nur eine Sekunde langweilig zu werden.

Die Zuhörenden tragen hohe Kragen und enge Schnürleiber, halten von Bildung viel und von Sport nichts. Sie ziehen die Brauen hoch, als Curtius ihnen klarmacht, daß die Griechen, ganz anders, Geist und Leib gleich bewerteten und die Ausbildung beider Kräfte als Gebot der Götter nahmen.

Am Ende vernehmen die Hörer, wie zerstört das alte Heiligtum nun sei und wie verdienstvoll eine Freilegung alter Kultstätten bleibe. Und der junge Gelehrte schließt mit den Worten: „Was dort im dunkler Tiefe liegt, ist Leben von unsrem Leben. Wenn auch andere Gottesboten in die Welt gezogen sind… so bleibt Olympia doch auch für uns ein heiliger Boden, und wir sollten in unsere… Welt hinübernehmen den Schwung der Begeisterung, die aufopfernde Vaterlandsliebe, die Weihe der Kunst und die Kraft der alle Mühsale des Lebens überdauernden Freude.“

Unter den Zuhörern war auch der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV: Am nächsten Morgen besuchte er seinen Freund, den Naturforscher Alexander von Humboldt, der eines Schnupfens wegen den Vortrag hatte versäumen müssen. Er wollte dem alten Herrn wenigstens von diesem „genußreichen Abend“ berichten, der ihm, wie der König sich ausdrückte, so geholfen habe, die Sinnesart der Griechen zu verstehen und das, „was das Gefühl für das Schöne in einem Volk hervorbringe“. Beim Abschied sagte Friedrich Wilhelm, und es klang mehr nach Ernst als nach Scherz: „Nun werde ich mit einer Sparbüchse herumgehen und für die Ausgrabungen sammeln.“ Aber Preußen war damals arm, und von teuren Ausgrabungen konnte keine Rede sein. Doch zwanzig Jahre später, als der Krieg gegen Frankreich beendet und das Deutsche Reich gegründet war, erinnerte Curtius die nunmehr kaiserliche Familie in Berlin an Olympia. Seine eigene Erinnerung an den Ort war inzwischen über 30 Jahre alt, seine Begeisterung aber für den Plan, Olympia wieder auszugraben, nicht einen Tag älter geworden. Und Curtius sprach wiederum so überzeugend, daß das Kaiserhaus einsah, „es wäre ein schöner und sinnvoller Beginn für unser neugeründetes Reich, als erste Friedenstat Olympia der Welt wieder sichtbar zu machen“.

Weniger optimistisch sahen die Griechen aus, als der Plan ihnen unterbreitet wurde. Sie hatten ihre Gründe dafür. Seit hundert Jahren erlebten sie die Invasion westeuropäischer Gelehrter und Kunstfreunde, die mit Begeisterung, Spitzhacke und Spaten in ihr Land einzogen, den Boden nach Kunstwerken durchwühlten und die heimatlichen Museen in London, Paris und Berlin damit füllten. Im Anfang hatte man sich von griechischer Seite nicht viel dabei gedacht; sollten die Fremden doch den Plunder nehmen, angeschlagene Tonvasen und Marmordamen ohne Kopf und Fuß. Inzwischen aber sah man auch in Griechenland diese tätige Kunstbegeisterung mit andern Augen und war so unfreundlich, die ehrwürdigen Gelehrten als Diebe aus dem Land zu weisen.

Es kostete viel Diplomatisches Hin und Her, den griechischen Behörden klarzumachen, daß es diesmal ganz anders sein sollte. Das Deutsche Reich wollte achthunderttausend Mark, was damals viel Geld war, in die Ausgrabung stecken und Ernst Curtius mit einem Stab verdienstvoller Archäologen entsenden, die das olympische Heiligtum wieder freilegen und, soweit wie möglich, in den alten Zustand setzen sollten. Alle Weihegeschenke, Vasen und Kunstwerke, die nicht länger dem zerstörenden Einfluß der Witterung ausgesetzt bleiben durften, sollten in einem Museum in Olympia aufgestellt werden, das ein reicher Grieche seinem Vaterland zu diesem Zweck schenken wollte.

Das Deutsche Reich verpflichtete sich, sämtliche Funde auf griechischem Boden zu belassen; es wollte nichts für seinen Aufwand, es unternahm ihn um der Ehre willen. Es handelte in Geiste des olympischen Gedankens, um der Wissenschaft zu dienen und durch Wiedererweckung einer lang vergessenen Epoche das moderne Schaffen und Denken anzuregen.

Die Griechen gaben endlich ihre Zustimmung; aber sie blieben mißtrauisch und lange Zeit überzeugt, die Deutschen trieben heimlich doch ein unehrliches Spiel. Noch zwei Jahre nach Beginn der Ausgrabungen erlebte einer der deutschen Archäologen auf einer Gesellschaft in Athen einen Zwischenfall, der ihn ebenso ärgerte, wie belustigte.

Nach einem langen, vertraulichen Gespräch mit einem angesehenen Griechen zog ihn sein Gesprächspartner in die Ecke. „Es bleibt unter uns“, beteuerte er flüsternd, „aber nun spielen Sie mal mit offenen Karten: Wie stellen Sie es eigentlich an, die olympischen Funden aus dem Land zu schaffen, ohne daß auch nur ein einziger unserer Aufsichtsbeamten jemals etwas hat merken können?“.

Sieben Jahre lang, von 1874 bis 1881, arbeiteten die deutschen Archäologen in Olympia. Der Zeustempel und der Heratempel wurden freigelegt, auch die Turnhalle und das Gästehaus, dazu zahlreiche Schatzhäuser, in denen ehemals die Siegerstatuen aufbewahrt worden waren. Vieles war für immer zerstört. Was aber gerettet werden konnte, sprach von Anmut und Adel, von schöpferischer und sittlicher Kraft und machte den olympischen Gedanken wieder leibhaftig greifbar.

Curtius fand in Wilhelm Dörpfeld einen genialen Nachfolger, der sein ganzes Leben der Forschung und Deutung Olympias widmete. Sein 1935 erschienenes Werk „Alt-Olympia, Untersuchungen und Ausgrabungen zur Geschichte des älteren Heiligtum von Olympia in der griechischen Kunst“ ist ein Musterbeispiel archäologischer Fundbeschreibung und wissenschaftlich exakter Analyse. Das uns heute geläufige Gesamtbild der Altis von Olympia und ihrer näheren Umgebung ist im wesentlichen Dörpfelds Werk.

Auch der Plan des Museums in Olympia, das der Berliner Architekt Friedrich Adler erbaute, geht auf ihn zurück. Im Jahre 1929 entdeckte er unter den Propyläen des historischen Pelopions in einem Umkreis von gut dreißig Metern einen uralten Steinring; Dörpfeld glaubte damit den Grabhügel des Königs Pelops entdeckt zu haben, jenes sagenhaften Helden, der, ein Sohn des Tantalos, in der Gegend des späteren Olympia König von Elis im Wagenrennen besiegte.

Nach Dörpfeld setze Carl Diem bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts die Arbeit in Olympia fort; mit der Ausgrabung des ersten Stadions wurde diesem verdienstvollen Manne ein langgehegter Wunsch erfüllt.

Doch seit wann lassen sich die Olympischen Spiele datieren? Als urkundlich belegt läßt man das Jahr 776 v. d. Ztr. Gelten. Damals sollen Lykurg von Sparte und König Iphitos von Elis übereingekommen sein, im Rahmen eines dreimonatigen Friedensfestes alle vier Jahre Zeus zur Ehre bestimmte Wettkämpfe durchzuführen. Dieser Vertrag wurde in feierlicher Form auf einem Bronzediskus festgehalten.

Das Programm des olympischen Wettbewerbs wuchs in den folgenden Jahrhunderten auf achtzehn Disziplinen an, also auf fast so viele, wie für München vorgesehen waren. Man maß sich z. B. im Stadionlauf (192,27 Meter), im Doppelstadion- und Langlauf (4,5 Kilometer). Man übte sich im Diskus- und Speerwurf, im Wagenrennen und Weitsprung, im Ringen und Pankration, einem gemischten Faust- und Ringkampf. Die Krone aller Wettkämpfe aber war das Pentathlon, der olympische Fünfkampf, der sich aus Weitsprung, Diskus- und Speerwurf, Stadionlauf und Ringen zusammensetzte.

Nur ein in seinen Kräften vielseitig veranlagter Wettkampfteilnehmer konnte in dieser Disziplin mithalten. Sie zielte auf Harmonie, auf Schönheit der körperlichen Bewegung; in ihr kam das griechische Erziehungsziel am klarsten zum Ausdruck. Die Kämpfe schlossen jedesmal mit dem Waffenlauf. Der fünfte Tag blieb der Siegerehrung vorbehalten.

Viel zu wenig ist bekannt, dass sich die Griechen in Olympia nicht allein in die athletischen Disziplinen maßen, sondern ebenso gewissenhaft in den musischen. Man ermittelte die Besten in der Kunst der Rede und Gegenrede, in der Schönheit des Gesangs, in der dramatischen und lyrischen Dichtung. Solche musischen Wettkämpfe blieben nicht ohne Wirkung auf die griechische Kultur. Sie halfen das Goldene Zeitalter heraufführen, aus dem uns noch heute Namen wie Sterne leuchten, so der Dichter Aeschylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Pindar, ferner Demokrit, Herodot, Gorgias, Thukydides, Hippokrates, Xenophon, Platon, Isokrates.

Hippias verfasste die olympische Siegerliste, Aristoteles nach ihr die seine. Herodot trug auf der 84. Olympiade (444 v. Ztr.) seine Geschichtsdarstellung vor, an der sich Thukydides entzündete. Unsterblichen Ruhm erlangten Baumeister und Bildhauer wie Myron, Polyklet, Skopas, Praxiteles und Phidias, dessen Zeusstatue das Herzstück der Altis wurde und bald als eines der sieben Weltwunder galt. Phidias hatte bereits in seiner Vaterstadt das Kolossalstandbild der Athene Parthenos geschaffen, war aber unter dem Vorwand, Gold veruntreut zu haben, in den Kerker geworfen worden. Er konnte entweichen und Asyl in Olympia finden, wo die Eleer ihm eine Werkstatt einrichteten. Bald darauf rehabilitierte er sich mit dem Standbild des Zeus. Der Schriftsteller Chrysostomos läßt in einer seiner Schriften Phidias folgendermaßen zu Worte kommen: „Unser Zeus aber ist friedlich und in allen Zügen mild, gleichsam der Obwalter über ein einträchtiges, durch keine Parteiungen zerrissenes Hellas. Diesen habe ich hingestellt, nachdem ich mit meiner Kunst und mit der weisen und trefflichen Gemeinde Eleer zu Rate gegangen, sanft und her, mit ungetrübt heiterer Miene, ihn, den Gebe des Lebens und Gedeihens und aller Güter, den gemeinsamen Vater, Retter und Hüter der Menschen, soweit es einem Sterblichen vergönnt war, in seine Gedanken sich ein Bild zu machen von der überschwenglichen Größe dieses Göttlichen Wesens.“

Zu den Olympischen Spielen hatten die Frauen im Altertum keinen Zutritt. Nur der Priesterin der Demter stand ein Ehrenplatz auf dem Marmorthron gegen über der Kampfrichtertribüne zu. Die Vermutung liegt nahe, dass die Gegenwart der Fruchtbarkeitsgöttin auf einen weit älteren Kult verweist, der noch vor etwa fünftausend Jahren in ganz Europa beheimatet war und vielleicht erst mit dem Einzug der Achäer und Jonier in Hellas von einem patriarchalisch bestimmten Weltbewusstsein abgelöst wurde. Auch die Heräen, die Wettkämpfe der Frauen zu Ehren der Zeus Gemahlin Hera, müssen wohl im Sinne des Magna-Mater-Kultes gedeutet werden. Diese Spiele fanden immer unmittelbar vor oder nach den Wettkämpfen der Männer statt.

Wenn aber nach Dörpfelds Aussage Olympia das Grab Pelops, des Eindringlings aus dem Norden, bis in die Gegenwart zu bergen wußte, dürfte ein indogermanischer Totenkult als Keim der Olympischen Spiele nicht ausgeschlossen sein. Bereits im Jahr 1580 v. Ztr. Schleuderte ein Grieche namens Asklepiades den Diskus, das Zeichen der Sonne, über das Kampffeld. Er wurde Sieger und damit gewiß Künder einer neuen Zeit.

Die Auseinandersetzung auf peloponnesischem Boden zwischen den Alteingesessenen und den nunmehr eindringenden Völkern muß in aller Grausamkeit und Verbitterung stattgefunden haben. Jeder wollte und musste sich behaupten; so dauerten diese Kämpfe viele lange Jahre. Und sie flammten erneut auf, als zu den Achaiern und Joniern noch die Dorer stießen.

Friedrich Nietzsche hat uns als erster von dem Wahn befreit, griechische Kultur müsse von Anfang an etwas unerhört Humanes gewesen sein. Schon Kleist rebellierte instinktiv mit seiner Tragödie „Penthesilea“ gegen diese Auffassung. Nietzsche schreibt in seiner bemerkenswerten Studie „Homers Wettkampf“: „Wenn man von Humanität redet.so liegt die Vorstellung zugrunde, es möge das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung gibt es in Wirklichkeit nicht; die natürlichen Eigenschaften und die eigentlich menschlich genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch in seinen höchsten und edelsten Kräften ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität in Regungen, Taten und Werken hervorwachsen kann.“

Wann genau es zum Ausgleich der Kräfte, zum erträglichen Nebeneinander der Völkerschaften gekommen ist, wissen wir nicht. Es muß aber eines Tages etwas geschehen sein, das die stets Kampfbereiten von blutigen Auseinandersetzungen abgelenkt hat. Es muß etwas ungemein Ehrfurcht Erweckendes und zugleich Phantasie Belebendes gewesen sein, vielleicht der Tod einer von allen Parteien geachteten Persönlichkeit, der zur rechten Stunden dem die Zunge löste, der Kunde zu geben wußte von den Taten der Toten. Also hatten, aus dem Mythischen schöpfend, Wort- und Liedgewaltige das Menschenlos an ein Obwaltendes gebunden.

In diesem Sinne sind sicherlich Jahrhunderte hindurch die Heldentaten des Herakles besungen und in kultischen Spielen dargestellt worden. Wie es heißt, war Herakles die Zahl fünf heilig; auch die Dorer, die ihn vor allen andern Helden verehrten, maßen dieser Zahl eine besondere Bedeutung bei. Das hat Jürgen Spanuth in seinem Werk „Atlantis“ überzeugend dargelegt. So nimmt es nicht wunder, dass die Olympiaden seit dem Einfluß der Dorer für lange Zeit durch einen Fünfjahres-Rhythmus abgelöst werden. Seit Schliemann Troja entdeckte, seit Spanuth uns einen urgermanischen „Fluchtweg“ freilegte (vom Nord-Ostseeraum bis ans Mittelmeer), sollten gerade wir Deutsche uns veranlaßt sehen, in Olympia nach den Grundzügen unseres Wesens zu forschen; denn „der Mensch ist das Resultat der Vergangenheit, in ihm wird sie geehrt“ sagte Nietzsche, und er fügt an anderer Stelle hinzu: „ Auch das Persönliche hat nur Ruhm, wenn es in ferne Mythen gehüllt wird.“ In diesem Sinne bewahrt Homer der Nachwelt Taten der Ahnen. Die Ilias entsteht, die Odyssee erklingt und der Dichter erwirbt mit diesen beiden Werken seinem Volk und den Göttern eine unzerstörbare Heimat.

Gleichzeitig ist er Mittler zwischen einer mythischen und geschichtsträchtigen Zeit: Während der Totenfeier zu Ehren des gefallenen Patriklos künden sich die ersten vorolympischen Spiele an. Und noch eins bleibt bemerkenswert: Werden die Kämpfe um Troja auch rückhaltlos-grausam dargestellt, so verleiht der Dichter seinen Helden doch einen solchen Glanz, dass die blutigen Kämpfe nicht mehr unbedingt im Vordergrund zu stehen scheinen.

Durch Homer erfahren wir auch, wie der Kampf Gleichveranlagter nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Fähigkeiten emporbildet. Zwar wird der Ehrgeiz des einzelnen Gegners durch Rede und Gegenrede gewaltig angestachelt, doch diese Eigenschaft erstickt nicht andere wertvollere Anlagen im Menschen und artet nicht aus; denn das Ziel aller Beteiligten heißt: Ehre sammeln auf den Altar der Gottheit.

So legt Homer mit seiner Dichtung den eigentlichen Grund für die Olympischen Spiele, in den Disziplinen der Kunst wie in denen der körperlichen Ertüchtigung. Nietzsche erläutert: „An das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen vermehre; seinen Stadtgöttern weihte er die Kränze, die die Kampfrichter ehrend auf sein Haupt setzten. Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile der Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt.“

Wir erkennen wohl, daß solche Heimatliebe den Blick für die Größe des Lebens zu weiten versteht. Heimatliebe unter den Augen der Götter wird bildende Kraft, erzeugt auf die Dauer ein Volk von genialen Fähigkeiten. Wer in Olympia siegte, war von dieser Ahnung durchdrungen. Für einen seligen Augenblick verkörperte er die geheime Sehnsucht einer lebendigen Gemeinschaft, der Gottheit auch leibhaft nahe zu sein. Langstreckenläufer verkündeten der Heimatstadt rechtzeitig den Namen des Siegers, und zu seinem Empfang wurde die schützende Mauer eingerissen und in ihrer Lücke eigens ein Siegestor errichtet.

Der Olympische Wettkampf ist es, der die Griechen zu menschlicher und staatspolitischer Größe erzieht. „Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg“, bemerkt Friedrich Nietzsche, „so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende Tat plötzlich dem Wettkampf entrückt wurde… Die Wirkung ist fast ohne Ausnahme eine entsetzliche; und wenn man gewöhnlich aus diesen Wirkungen den Schluß zieht, daß der Grieche unvermögend gewesen sei, Ruhm und Glück zu ertragen, so sollte man genauer reden, daß er den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht tragen vermochte.“

Die Situation unserer Zeit ist recht eigentlich dazu angetan, die Ursachen des nunmehr erfolgenden allgemeinen Niederbruchs aufzudecken. Der hohe Blutzoll, den Adel und Freie während des Peloponnesischen Bürgerkriegs zu entrichten hatten, ist die eine; die Zunahme volksfremder Elemente in den Städten und das Überhandnehmen des Hetärenwesens die andere. Bereits gegen Ende der Hoch-Zeit der Olympischen Spiele ist in den geistigen Zentren, vor allem in Denkschulen Athens, eine merkwürdige Sinnesänderung wahrnehmbar. Die Bildekraft der Gesänge Homers beginnt zu erlahmen.

Der Mensch ist auf Vereinzelung aus und damit auf Entbindung aus dem Lebensganzen; er sucht das Ausgefallene, die Sensation um jeden Preis. So werden Scheinprobleme aufgeworfen, die letztlich in völlig unmotivierter Sophisterei enden; der geistige Wettkampf geht in die Irre.

Dieser verhängnisvollen Entwicklung sucht Sokrates mit seiner logischen Fragemethode zu begegnen. Allein er scheitert, ist doch die Logik immer nur eindimensional erfolgversprechend, während das Leben stets ein umgreifendes Ganzes bleibt, das allerdings seinerseits nur schwerlich imstande ist, sich auf dialektischem Wege verständlich zu machen, vor allem dann, wenn an das Geheimnis unserer Existenz gerührt wird.

Die Zeitgenossen, noch der olympischen Weltschau verhaftet, mußten in Sokrates einen Skrupellosen erkennen, der ihre Wertwelt zertrümmerte und an der Stelle nebulose Gebilde zurückließ: das Gute, das Wahre, das Schöne. Waren nicht bisher alle Tugenden Ausdruck einer Tüchtigkeit gewesen, die mit die Konstitution des griechischen Menschen zusammenhing? Das war doch bisher olympischer Stolz und olympische Verpflichtung, den Körper zum Heim des Göttlichen emporzubilden! So musste Sokrates den Schierlingsbecher leeren.

Doch damit war der Niedergang der olympischen Lebensordnung nicht aufzuhalten. Die Wort- und Gedankenzersetzer, die Sophisten, sowie die Weltverächter und Besudler des althellenischen Schönheitsideals, auch Kyniker genannt, überschrien, überhöhnten in der Folgezeit die dunkel Stimme der Gottheit. Und es dauerte nicht lange, da setzte Rom dem übermütigen Hellas den Fuß auf den Nacken. Fortan lehrten griechische Sklaven die Söhne und Töchter römischer Patrizier, was Bildung sei.

Doch was geschah währenddessen in Olympia? Wohl wurden dort zur Zeit der Pax Romana besonders prunkvolle Bauten, Gästehäuser und Thermen errichtet; dich die da am Rande des Kampffeldes lärmten, waren keine Griechen mehr: Olympia war das Reiseziel aller Emporkömmlinge und Abenteurer geworden, von Spanien bis an das Delta des Nils. Kaiser Nero z. B. griff in dem eitlen Wunsch, in Olympia zu glänzen, in den heiligen Rhythmus der Spiele ein und erzwang die Verlegung der 211. Olympiade um zwei Jahre. „Huldvoll“ erweiterte er das historische Programm der Spiele um die „Kunstwettkämpfe“; neben dem Wettstreit der Sänger und Tragödiendichter wurde ein Pferderennen mit Zehnergespannen eingeführt. Der Kaiser nahm an allen Übungen persönlich teil und liess sich bei jeder Gelegenheit als Sieger auszeichnen. Auf dieser einen „Kunstreise“ allein nötigte er, der von einer fünftausend Kopf starken Leibwache begleitet wurde, unter dem Beifall seiner Claqueure den griechischen Kampfrichtern eintausendachthundert Siegeskränze ab.

Doch eine Genugtuung bleibt: Die eleischen Hellanodiken haben später die von Nero mißbrauchten Spiele als Anolympias erklärt. Indessen ging es weiter abwärts; nur wenige Wettkampfteilnehmer stammten in den folgenden Jahren noch aus Hellas. Professionals verdrängten die selbstlosen Olympioniken. Die kultische Feier artete in ein sinnentleertes Schauspiel aus, in dem die Snobs, die Szene beherrschten. Als schließlich Kaiser Konstantin den Christenglauben zur Staatsreligion erhob, zeichnete sich bald das Ende der Olympischen Spiele ab. Der Römer duldete und veranlaßte die Plünderung der Tempel.

Und schließlich war es Kaiser Theodosius der Große, ein fanatischer Spanier, der ein Jahr nach der 293, Olympiade alle heidnischen Spiele verbot. Das Standbild des Zeus von Olympia wurde nach Konstantinopel verschleppt, wo es im Jahr 476 n. Ztr. Verbrannte.

Nach Angaben des römischen Historikers Plinius sind im Lauf der Zeit aus den Heiligtümern von Delphi, Rhodos und Olympia nicht weniger als dreitausend Statuen entführt worden, darunter solche von unübertroffener Schönheit und innerer Harmonie, Zeugen einer Hoch-Zeit menschlichen Bildens, die in einigen Exemplaren den Zerfall von Geist und Sprache eines hochbegabten Volkes bis in die Gegenwart überdauern sollten.

Als Europa Ende des 19. Jahrhunderts auf der Höhe seiner Macht und seines Ansehens stand, besann es sich auf die Zeit, da auch die griechische Völkerschaft sich Hochziele gesteckt hatte. Deutscher Idealismus und französische Tatkraft riefen erneut die Olympischen Spiele ins Leben. Schon 1859 hatte man in der griechischen Hauptstadt gymnastische Wettkämpfe nach hellenischem Vorbild abgehalten. Doch erst die aufsehenerregenden Entdeckungen eines Heinrich Schliemann in Troja und Mykene, die Verdienste eines Curtius um Olympia weckten in anderen europäischen Ländern das Interesse an den alten herrlichen Spielen.

Am 23. Juni 1894 konnte am Ende einer debattenreichen Sitzung der französische Baron Pierre de Coubertin die Gründung eines „Internationalen Olympischen Comitees“ verkünden lassen. Noch heute ist das Programm des Franzosen lesenswert. Erstaunlich sein Urteil über das Versagen der Pädagogik! Sie beherrsche nicht mehr die Kunst des Anspannens, des Sammelns verschiedener Kräfte in einer harmonischen Verbindung. Sie habe sich mitreißen lassen und sich dann selbst fortgetrieben in eine maßlose Spezialisierung!

Coubertins Aufruf verhallte nicht ungehört! Zwei Jahre später finden die ersten neuen Olympischen Spiele in Athen statt, sie dauern zehn Tage. Es ist ein bescheidener Anfang, von der Weltpresse schlecht gewürdigt. Auch die nächsten Olympiaden sind noch von Kalamitäten überschattet. Erst die Olympischen Spiele in London (1912) finden ein weltweites Echo; sie werden in einem würdigen und gleichzeitig zweckgerechten Rahmen begangen.

Olympia selbst ist eine Weihstätte, an die Erdkräfte der Heimat gebunden und dem Zivilisationsbetrieb völlig wesensfremd. Deshalb empfanden es alle Sportfreunde als eine segensreiche Tat, als Carl Diem 1936 veranlaßte, für die Olympischen Spiele in Berlin das heilige Feuer von der Urstätte zu holen, als sollte das Licht, das einst unsere Ahnen aus ihrer nordischen Heimat mit in den Süden gebracht hatten, nunmehr in einem riesigen, völkerverbindenden Fackellauf an den Ursprung zurückkehren.

Freuen wir uns an dem, was immer erfreulich bleiben wird: an der Begeisterungsfähigkeit aller Sportfreunde! Sie wirkt Gutes, Menschen aus den verschiedensten Ländern lernen einander kennen und wertschätzen, würdigen die Fähigkeiten der Olympioniken, ziehen Vergleiche, entdecken grundlegende Unterschiede und erkennen einander doch an. Das ist das Entscheidende. Nur so fallen Vorurteile, aber auch nur so findet jeder in sich selbst das ihm auf die Dauer Gemäße nämlich, das wir in uns und den anderen zu achten haben.

Und bei weiterem Nachdenken wird man begreifen, warum die Besten der einzelnen Völker ganz bestimmten Disziplinen zuneigen. Natürlich ging es während der Olympischen Spiele nur um die Leistung einzelner, aber damit auch um den Fähigkeitsnachweis des jeweils dahinterstehenden Volkes.

Wir sollten uns zu keiner Stunde von denen abwenden, die in edlem Kampf ihre Kräfte messen. Ihnen leuchtet die Sonnen Homers!

Quelle:

Siegfried Bokelmann, Zur Geschichte des olympischen Gedankens, Deutschland in Geschichte und Gegenwart – Heft Nr. 4, Grabert-Verlag Tübingen 1972