Die Entwicklungshilfe

Wir veröffentlichen hier einen Text, über die Entwicklungshilfe aus dem Jahr 1965, dieser wurde im Heft „Nation Europa“ veröffentlicht. Der Verfasser (Hellfried Bauer) beleuchtet im ersten Teil die Entstehungsgeschichte der Entwicklungshilfe. Im zweiten Teil geht er, gestützt auf wissenschaftliche Ergebnisse, auf den Sinn und Nutzen der Entwicklungshilfe ein. Schnell wird eigentlich klar, daß die benötigte errechnete Hilfe nie dem angeblichen Anspruch bzw. dem Bevölkerungswachstum in Asien und Afrika nachkommen konnte. Der Text ist zwar über 55 Jahre alt, dennoch zeugt er auf, daß die Entwicklungshilfe schon damals ein Faß ohne Boden war, sprich für die Katz.

Viel Vergnügen beim Lesen!

 

Als Beginn der modernen Entwicklungshilfe wird die Rede angesehen, die der amerikanische Präsident Truman anläßlich seiner Amtseinführung als gewählter Präsident am 20. Januar 1949 gehalten hat. Er entwarf damals ein Aktionsprogramm, das sich in vier Hauptpunkte gliederte. Er forderte die fortgesetzte Unterstützung der Vereinten Nationen und ihrer verschiedenen Organisationen, die Weiterführung des Programms zum Wiederaufbau der kriegsverwüsteten Länder, die Stärkung der Abwehrkraft der freiheitsliebenden Nationen gegen äußeren Druck und schließlich das seither oft zitierte „Punkt-Vier-Programm“, in dem er die Aufgaben der Entwicklungshilfe umriß. Unter anderem stehen da die Sätze:

Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt unter ärmlichen, ja elenden Umständen. Ihre Ernährung ist unzureichend. Krankheiten und Epidemien grassieren. Die Wirtschaftsformen sind primitiv und veraltet. Ihre Armut bildet nicht nur für sie selber, sondern auch für die begünstigteren Weltgegenden eine Gefahr. An wissenschaftlichem und produktionstechnischem Rüstzeug stehen die Vereinigten Staaten an der Spitze aller Nationen. Trotzdem bleibt die Menge der Güter, die wir anderen Völkern überlassen können, begrenzt. Hingegen befinden sich unsere technischen Kenntnisse im bestätigen Wachstum und sind noch bei weitem nicht ausgeschöpft.

Diesen Schatz technischen Wissens sollten wir, wie ich glaube, allen friedliebenden Völkern zugänglich machen, denn nichts vermag ihre Anstrengungen zur Besserung ihres Loses kräftiger zu fördern. Ebenso sollte gemeinschaftlich mit anderen Ländern der Kapitalexport nach solchen Gegenden gelenkt werden, die Mittel zu ihrer Erschließung benötigen.

Wir laden alle Staaten ein, unsere und ihre technische Erfahrung für dieses große Unternehmen zusammenzulegen. Was mir vorschwebt, ist ein Gemeinschaftsunternehmen, an dem alle fortgeschrittenen Länder mit Hilfe der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen mitwirken werden. Es handelt sich um eine weltweite Anstrengung, den zurückgebliebenen Ländern zu Wohlstand, Frieden und Freiheit zu verhelfen…“

Um die Bedeutung dieser Erklärung zu erkennen, müssen die besonderen politischen Voraussetzungen der damaligen Lage gesehen werden. Die Worte Trumans sind bestimmt durch die amerikanische Prägung des technisch-ökonomischen Fortschrittsideals. Nachdem die USA um die Jahrhundertwende den Krieg mit Spanien gewonnen hatten, fühlten sie sich berufen, ihre Auffassung der Lebensgestaltung in die ganze Welt zu tragen. Ihr missionarischer Eifer kannte um so weniger Bedenken, als sie überzeugt waren, im Einklang mit sittlich-religiösen Vorstellungen zu handeln, die sie als allein maßgebend ansahen.

In ihren führenden Schichten glaubten sie, mit aller Entschlossenheit auch Gewaltmittel anwenden zu dürfen, wenn sie bei ihrem Bemühen, allen Menschen das wahre Glück zu bringen, auf Widerstand stießen. Im Grunde ging es darum, die christliche Heilsvorstellung aus dem übersinnlichen Bereich in diese Welt zu übertragen und aus der Erde ein – amerikanisches – Paradies zu machen.

Die erste große Gelegenheit, ihr Programm zu verwirklichen, bot die Landung der amerikanischen Armeen im Ersten Weltkrieg 1917 auf französischem Boden. Sie sahen nicht, welche Zerstörungen ihr militärisches Einschreiten in Europa anrichtete. Die Worte des damaligen Präsidenten Wilson: „The world must be made safe for democracy“, die mit goldenen Lettern auf seinem Denkmal in der alten Kaiserstadt Prag, in der Mitte Europas verewigt wurden, verkünden ein rein imperialistisches Programm; denn die Demokratie, für die die ganze Welt gesichert werden sollte, war nichts anderes als eine besondere echt amerikanische Form von Herrschaft.

Diese erste amerikanische Intervention in Europa wurde nicht umsonst als „Kreuzzug“ bezeichnet. Kreuzzüge waren immer grausam; denn Kreuzfahrer sind überzeugt, dass es bei ihrem Beginnen um die letzte, die allerletzte Gewaltanwendung geht, die verzeihlich ist, weil dann der ewige Friede folgt, der alle Wunden heilt. Wenn im Gefolge der Missionare auch die Geschäftsleute zu ihrem Profit kamen, so entsprach das durchaus der puritanischen Auffassung. Das Paradies, das geschaffen werden sollte, war als irdisches Eden voll materiellen Wohlstandes gedacht. Um zu Reichtum zu kommen, brauchte man Händler, Unternehmer und Kaufleute.

Schließlich war das Bild der neuen Weltverfassung von der Vorstellung des alleinseligmachenden technisch-ökonomischen Fortschritts geprägt. Das Festhalten an nationalen Traditionen und der Versuch, überlieferte Gesellschaftsformen zu schützen, mußte von den Kreuzfahrern des Amerikanismus Wilsonscher Prägung als Ketzerei angesehen werden, die es im Guten oder Bösen zu beseitigen galt. Die den Engländern einst zum Vorwurf gemachte Heuchelei, der Vorwurf, sie sprächen vom Christentum und meinten Katun, war auf die Amerikaner nicht anwendbar, da bei ihnen Christentum und Katun zusammenfielen.

Der Zweite Weltkrieg brachte eine übersteigerte Wiederholung des ersten Vorstoßes. Wenn der militärische Erfolg nur mit Hilfe der Sowjetunion gelang, so wurde das nicht unbedingt als Mangel empfunden. Man konnte im Kommunismus den russischen Versuch der Verwirklichung des technisch-ökonomischen Fortschrittsideals sehen. Mit den blutigen Methoden der Bundesgenossen fand man sich ab, da ja – wie man meinte – die Gemeinsamkeit des paradiesischen Endzieles außer Zweifel stand. Deshalb konnte auch der führende amerikanische Wissenschaftler Rostow in seinen „Stadien wirtschaftlichen Wachstums“ den Sowjetkommunismus als bloße „Wachstumsschwierigkeit“ bezeichnen, die sich bei fortlaufender Hebung des Wohlstandes in den sowjetischen Ländern von selbst erledigen würde.

Ein Programm zur Neugestaltung der gesamten Welt musste natürlich auch die außereuropäischen Länder und Völker berücksichtigen. Die Niederwerfung Europas mit seinen „zurückgebliebenen“ Ansichten und Werten war notwendig, damit keine ebenbürtige Macht der Durchführung des Weltbeglückungsprogrammes Hindernisse bereiten könnte. Ein politischer Zusammenschluß Europas wäre nach amerikanischer Auffassung nur dann zulässig, wenn er die Beseitigung der europäischen nationalen Eigenart garantiert und sich das amerikanische Fortschrittsideal zum Leitbild macht. Eine europäische „Integration“ ist von den USA her gesehen überhaupt nur als Bildung einer Zweigfirma erwünscht. Der nächste Schritt wäre dann die Zusammenfassung der außereuropäischen Länder.

Schon 1914/1918 hatte man keinen Anstoß daran genommen, dass die europäischen Bundesgenossen Farbige in den Krieg gegen das „reaktionäre“ Mitteleuropa führten und dass trotz der völkerrechtlich garantierten Neutralität der Kolonialländer der Krieg gegen Weiße auch nach Afrika getragen wurde.

Stärker noch als die wirtschaftliche Entwicklung musste der Einsatz farbiger Truppen im europäischen Krieg die Unhaltbarkeit der Kolonialreiche beweisen. Farbige Soldaten, die den Kreuzzug gegen das alte Europa mitgemacht hatten, konnten nicht mehr einfach in ihre Dörfer zurückgejagt werden. Die kommunistischen Agitationen mit ihren antikolonialen Losungen fanden vorbereiteten Boden und beschleunigten die Auflösung der kolonialen Systeme.

Mit der Gründung der Vereinten Nationen war das Werkzeug zu einer weltumfassenden Verwirklichung des technisch-ökonomischen Fortschrittsideals geschaffen. Aber je weiter man ausgriff, um so grösser wurden die Schwierigkeiten. Die in Bewegung geratene zahlenmäßig verhältnismäßig schwachen, ihren Überlieferungen planmäßig entfremdeten Intelligenzkreise der Völker Asiens und Afrikas rafften die amerikanischen und sowjetischen Versprechungen eiligst auf. Ihre Ungeduld, die in keinem Verhältnis zu ihren organisatorischen Fähigkeiten stand, wurde verstärkt durch das Ausgreifen der amerikanischen und westeuropäischen Wirtschaft, deren im Krieg gewaltig entwickelte Leistungsfähigkeit Betätigungsmöglichkeit und potentielle Verbrauchermärkte suchte. Gleichzeitig erkannten die Führungskreise der USA, dass durch den Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen Kontinenten Kräfte in Bewegung gerieten, deren politische Energien nicht leicht zu kontrollieren waren.

Es bestand die Gefahr, dass die führende Position, die den Vereinigten Staaten durch den Kriegsausgang zugefallen war, sich als unhaltbar erweisen könnte. Der Glaube, es würde gelingen, die Sowjetunion, die den Sieg teuer hatte bezahlen müssen, durch die Vereinten Nationen zu binden, stellte sich sehr bald als Illusion heraus. Genau nach dem von Truman verkündeten Programm wurde daher mit dem Marshallplan den kriegsverwüsteten Ländern der Wiederaufbau erlaubt. Um den militärisch besiegten Staaten jede Möglichkeit zur Revision zu sperren und um dem problematischen sowjetischen Bundesgenossen Grenzen seiner bisher bedenkenlos geförderten Ausdehnung zu setzen, wurde ein ganzes System von Verteidigungsbündnissen geschaffen. Nach müheloser Verwirklichung dieses Vorhabens konzentrierte man sich auf den vierten Punkt des Truman-Programms – die „Entwicklungshilfe“. Sie sollte die außereuropäischen Völker wirtschaftlich und ideologisch nach den amerikanischen Wünschen formen.

Der Verwalter (Administrator) des Marshallplanes, Paul G. Hoffmann, dessen Geschicklichkeit nach amerikanischer Auffassung wesentlich zum Erfolg dieses Planes beigetragen hatte, und der heute Verwalter des Special Fund der Vereinigten Nationen ist, eines Fonds, der ausschließlich der Entwicklungshilfe dient, hat dieses Vorhaben als eine überdimensionale geschäftliche Investitionsmöglichkeit erkannt. In seiner Schrift One hundred Countries – and one a quarter billion People“ (Washington 1960) wies er darauf hin, daß die rund 100 sogenannten Entwicklungsländer, die von 1,25 Milliarden Menschen bewohnt werden, durchschnittlich eine Steigerung ihres Sozialproduktes um nur 1 Prozent im Jahr erreichen. Er bezeichnet es als das nächste Ziel der Entwicklungshilfe, eine jährliche Steigerung um 2 Prozent zu erreichen. Da die eigene Kapitalkraft in diesen Ländern dazu nicht ausreicht, forderte er, daß von den reichen Ländern jährlich sieben Milliarden Dollar den Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt werden müßten.

Niederländische und französische Fachleute, die seine Berechnungen überprüft haben, kamen zu dem Ergebnis, daß die wirtschaftlich unerwünschte und politisch gefährliche Spannung zwischen den Entwicklungsländern und den Wohlstandsgebieten durch eine Steigerung des Volkseinkommens um 2 Prozent jährlich nicht verringert, sondern sogar noch vergrößert würde; denn in den vollentwickelten Ländern der Erde steigt das Volkseinkommen um 3-5 Prozent jährlich. Nach den Berechnungen dieser Fachleute ist eine jährliche Investition von 22,5 Milliarden Dollar in den Entwicklungsländern erforderlich. Da diese Länder davon nur 7,5 Milliarden Dollar selbst aufbringen können, müßten im Rahmen der Entwicklungshilfe jährlich mindestens 15 Milliarden Dollar zugeführt werden, um die Steigerung des Sozialproduktes um 4 Prozent jährlich zu ermöglichen.

Sehr bald stellte sich heraus, daß diese Rechnung nur aufgehen könne, wenn die Entwicklungsländer ihr Schulbildung nach den Maßstäben der industriellen Gesellschaft ausrichten und ein gewisses Mindestmaß erreichen, wenn sie über gefestigte Regierungen verfügen, und wenn die Länder, in denen der größte Teil der Arbeitskräfte in einer nach herkömmlichen Methoden betriebenen Landwirtschaft tätig ist, imstande wären, sich selbst zu ernähren. Diese Angleichung der Nahrungsmittelerzeugung an den infolge der Bevölkerungszunahme und der gesteigerten Ansprüche zunehmenden Lebensmittelbedarf gelang bis jetzt nur in wenigen Ländern.

Da der Erfolg der Entwicklungshilfe, deren Mittel teils durch gemeinsame Anstrengungen – multilateral – teils durch die einzelnen Staaten unmittelbar – bilateral – aufgebraucht werden, durch das Nahrungsmitteldefizit in Frage gestellt ist, wurde der Export der Nahrungsmittel in die Entwicklungsländer als eine entscheidende zusätzliche Aufgabe der Entwicklungshilfe proklamiert.

Den Umfang des Nahrungsmittelbedarfs in den Entwicklungsländern haben der Leiter der Wirtschaftsabteilung im Landwirtschaftsministerium der USA und der Generalsekretär der OECD berechnet. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß das Nahrungsdefizit der unterentwickelten Länder bis zum Jahr 1980 auf einen Getreidewert von 300 Millionen Tonnen jährlich ansteigen würde, wenn das Sozialprodukt jährlich auch nur um 2,5 Prozent zunehmen und die Nahrungsmittelerzeugung weiterhin so langsam steigen wird wie bisher. Besonders schwierig ist die Lage in Indien, Pakistan und Türkei. In diesen Ländern wird das Nahrungsdefizit durch Lieferung der Vereinigten Staaten gedeckt. So erhält Indien jährlich rund. 4 Millionen Tonnen Getreide, Pakistan 1,5 Millionen Tonnen und die Türkei 1 Millionen Tonnen.

Die Lage wird noch verschärft durch den raschen natürlichen Bevölkerungszuwachs, der vor allem auf die hygienischen Hilfsmaßnahmen zurückzuführen ist. Da z. B. in Indien die Bevölkerung jährlich um 2,5 Prozent zunimmt, dürfte sie in zehn Jahren um 30 Prozent gestiegen sein. Für die Türkei wurde eine Bevölkerungszunahme von über 40 Prozent für die nächsten zehn Jahre berechnet.

Nach einer offiziellen deutschen Verlautbarung, die vor kurzem ausgegeben wurde, hat die Bundesrepublik 1964 rund 1 Prozent ihres Sozialprodukts für Entwicklungshilfe bereitgestellt. Sie steht damit in der Gruppe der wenigen Länder, die den Forderungen der Welthandelskonferenz bezüglich Höhe der Entwicklungshilfe voll nachgekommen sind. Die Bundesrepublik ist also durchaus berechtigt, ihr Gewicht bei der weiteren Gestaltung der Entwicklungshilfe zur Geltung zu bringen. Das gilt umso mehr, als die Bundesrepublik durch ihre Beiträge zur Weltbank, durch Sonderkredite an den Internationalen Währungsfond und durch die Beteiligung an internationalen Hilfsaktionen, so z. B. an der großangelegten Rettungsaktion für das englische Pfund vom November 1964, für die sie 2 Milliarden DM zur Verfügung stellte, die internationale Zusammenarbeit, die Entwicklungshilfe ermöglicht, nachhaltiger fördert als jeder andere Staat.

Die politische Bedeutung der Entwicklungshilfe ist besonders deutlich geworden, seit die kommunistischen Staaten ebenfalls als „Entwicklungshelfer“ in Erscheinung traten. Obwohl die Sowjetunion in ihrem unmittelbaren Machtbereich selbst weite Gebiete erst entwickeln muß, begann sie vor ungefähr zehn Jahren mit Hilfsaktionen in Entwicklungsländern Asiens, später auch Afrikas und Lateinamerikas. Sie konzentrierte sich dabei auf sorgfältig ausgewählte Maßnahmen der Handelsausweitung, sowie der technischen und militärischen Hilfe. Die Bedeutung dieser Maßnahmen wird weniger von ihrer zahlenmäßigen Höhe bestimmt, als durch die politische Zielsetzung. An den Hilfsmaßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt sich Rußland seit 1953. Es zahlte durchschnittlich jährlich 1 Million Dollar in den multilateralen Hilfsfond der Vereinten Nationen. Das Gesamtverhältnis zwischen westlicher und sowjetischer Entwicklungshilfe betrug zusammengefaßt 20:1. Während in den Jahren 1954-1961 vom sowjetischen Block – einschließlich China – wirtschaftliche und militärische Hilfe in der Höhe von 7 Milliarden Dollar angeboten wurde, von denen 2,5 Milliarden zur Auszahlung kamen, belief sich die Auslandshilfe der Vereinigten Staaten in dieser Zeit auf fast 45 Milliarden Dollar. Zum Vergleich sei angeführt, daß die deutsche Entwicklungshilfe für die Jahre 1956 bis 1960 11 Milliarden DM erreicht hat.

Trotz der zahlenmäßig geringen Aufwendung des Sowjetblocks für die Entwicklungsländer ist das politische Ergebnis ihrer Aktionen groß. Das dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, daß viele Entwicklungsländer davon beeindruckt sind, wie schnell die Sowjetunion ihren wirtschaftlichen Aufbau vorangetrieben hat. Im Vergleich zu der auf viele Jahrzehnte zurückgehenden industriellen Entwicklung in den westlichen Industriestaaten erscheint das sowjetische Beispiel für Länder, die rasch industrialisieren wollen, ansprechender.

In den Vereinigten Staaten hat sich seit 1960 ein Wandel in der Einstellung zur Entwicklungshilfe vollzogen. Während in den Jahren nach 1950 die optimistische Überzeugung vorherrschte, es gebe eine einheitliche Welt entwickelbarer Länder, die man durch materielle Zuwendung und amerikanische Erziehung rasch auf den gleichen Entwicklungsstand bringen könnte, wie man ihn mit Stolz in den USA verzeichnet, ist man heute skeptisch geworden.

Der in Amerika wirkende Soziologe Prof. Schoeck hat vor einiger Zeit in einem Vortrag an der Universität Münster darauf hingewiesen, daß es unwahrscheinlich sei, „daß der Versuch, die Rolle der Entwicklungsländer in Amerika mit Hilfe der abstrakten Idee der Gleichheit zu fixieren, noch einmal mit Erfolg neu unternommen werden kann. Die Idee von der Gleichheit, angewandt auf wirtschaftliche Bereiche, verliert in Amerika immer mehr an Durchschlagskraft.“

Zu diesem Gesinnungswandel haben zweifellos die Enttäuschungen beigetragen, die Amerika und sein „Entwicklungshelfer“ überall erleben mußten. Man zweifelt heute daran, daß es möglich sei, mit Hilfe der modernen Wissenschaft und internationaler Organisationen die Armut und Rückständigkeit auf der ganzen Welt in absehbarer Zeit zu beseitigen. Gibt es doch auch in Amerika noch unterentwickelte Bevölkerungskreise, obwohl hier das Vielfache an Geld, Belehrung und Betreuung aufgewendet wurde, das jemals in Entwicklungsländern eingesetzt werden könnte.

Im Bereich der Entwicklungshilfe zeigt sich die Unhaltbarkeit der technisch-ökonomischen Fortschrittsideologie. Die Vielfalt der Völker und ihrer kulturellen Tradition läßt sich nicht durch eine noch so intensive, mit finanziellen Mitteln und politischem Druck unterstützte Umerziehung beseitigen.

Die hochindustrialisierten Länder werden sich darauf beschränken müssen, mit ihren Erfahrungen und ihren materiellen Hilfsmitteln den weniger entwickelten Gebieten eine selbständige Entwicklung zu erleichtern, statt ihnen eine wesensfremde aufzuzwingen. Es muß zudem darauf Rücksicht genommen werden, daß die Völker Asiens und Afrika dazu Zeit brauchen. In jenen Räumen leben nicht überall unmündige „Wilde“, die man an der Hand führen könnte, um sie zu guten Geschäftspartnern zu machen. Dort leben auch Völker, die Träger alter hoher Kulturen sind. Sie können und werden unsere zivilisatorischen Formen um so weniger unverändert übernehmen, als unsere gesellschaftlichen Verhältnisse selbst Zeichen der Auflösung tragen. Um vorbildlich wirken zu können, müssen wir selbst erst wieder zu einer eigenständigen Ordnung gelangen. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß die in westlichen Formen erzogenen heutigen Führungsschichten afrikanischer und asiatischer Völker auf die Dauer bestimmend bleiben.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ganz bestimmten politischen Zielsetzungen verkündete Ideologie der Entwicklungshilfe ist zeitgebunden. Es liegt im Interesse der europäischen Völker, in den Entwicklungsländern mit jenen immer deutlicher in Erscheinung tretenden Kräften Verbindung aufzunehmen, die sich auch im wirtschaftlichen Bereich ebensosehr vom liberalistischen Kapitalismus wie von doktrinären Kommunismus freihalten.

Wie schwer diese Aufgabe sein wird, geht schon daraus hervor, daß die Erdbevölkerung am Ende unseres Jahrhunderts voraussichtlich auf 6 Milliarden Menschen anwachsen wird, von denen vier Fünftel in den Entwicklungsländern und den heute kommunistischen Staaten und nur ein Fünftel in den Staaten der westlichen Welt leben!

Quelle:
Hellfried Bauer, Die Entwicklungshilfe, in: Nation Europa, Heft 8 (1965), S. 41-48.