Die heilige Fahne

Nichts Grosses gab im Leben des Germanen, bei dem ihm nicht die enge und unlösliche Verbundenheit mit dem Geiste und dem Wesen seiner Ahnen zu Bewusstsein gekommen wäre. Ihr Leben war sein Leben, seine Taten waren ihre Taten, und in seiner höchsten Kraftentfaltung, in Kampf und Krieg, spürte er mehr als anderswo ihre unmittelbare Nähe, ja das völlige Eins Sein mit ihnen und ihrem heldenhaften Geiste. Aus diesem Wissen um die Einheit des lebendigen Seins in der Spanne der Geschlechter sind seine Sinnbilder entstanden, und vor allen anderen die Sinnbilder des Krieges und Kampfes.

Auf den Grabhügeln der Vorzeit, die im Inneren in der Steinkammer die Gebeine des Ahnherrn bargen, ragte als Mal und Zeichen ein Pfahl, geschnitzt aus dem heiligen Holze, das dem naturnahen Nordmenschen Sinnbild und Sitz des Lebens ist. Kein totes Merkzeichen nur, sondern eine lebendige Brücke von der Welt der mütterlichen Erde zur oberen Welt des lichten Himmels, in der die Sonne ihre Bahn läuft und in der die Taten gewirkt werden, an denen die Toten der Sippe und des Volkes ihren Anteil haben, so wie sie untrennbar teilhaben an dem Geiste und dem Blute derer, die diese Taten wirken.

Diese Zeichen waren geladen mit der göttlichen Kraft, die in der Erdkraft und der Sonnenkraft wirkt, und die als unzerstörbares Teil die im Helreich harrenden Toten mit den in Midgard handelnden Männern verbindet. Dies heilige, mit göttlicher und mit Ahnenkraft geladene Zeichen wurde als Feldzeichen in die Schlacht geführt; die junge Mannschaft schützte es mit Schild und Lanze und fühlte Siegeskraft von ihm ausgehen; denn die Kraft der Ahnen lebte in ihm, und es war der Glaube an den Sieg selbst, der sich darin verkörperte. Bis tief in das Mittelalter hinein war die Schlacht ein verabredetes Treffen mit dem Gegner; so wurde die Bannerstange auf dem vereinbarten Felde aufgestellt und ringsum die Schildburg gebildet, bei welcher der Heerführer selber hielt, und bei der die Entscheidung des Kriegsgottes fiel.

Dies Feldzeichen war mit einem Sinnbild des Sieges gekrönt; in Deutschland war es meistens der goldene Adler, der noch unsere deutschen Könige des Mittelalters in den Krieg begleitete, und der schon vor anderthalb Jahrtausenden von den Sachsen geführt wurde, als sie siegreich vordrangen und ihr Reich bis tief in Mitteldeutschland und über das Meer nach Britannien ausdehnten. Wo sie neues Land gewonnen hatten, da pflanzten sie das heilige Zeichen auf dem Schlachtfelde auf; nach Osten gerichtet, der aufgehenden Sonne zu: so sollte Ahnengeist und Ahnenkraft aus den Gräbern der Heimat in den neugewonnen Boden überströmen und die allgegenwärtige Sonnenkraft den neuen Heimatboden weihen.

Denn von der Sonne nahm der Germane sein Land, wie es uns noch viele bäuerliche Weistümer der späteren Zeit erzählen; in dem heiligen Feldzeichen aber vermählte sie sich mit der heiligen Erdkraft, dem mütterlichen Element, von der auch Donar, der alte Gott der germanischen Bauernkrieger, ernährt wurde, wie Edda erzählt. Die ewige Ordnung des Weltalls vereinigte sich darin mit dem Gesetze des Blutes und des Bodens, das der Urgrund aller heiligen Sippengesetze ist. Und das war der letzte Sinn alles germanischen Kampfes: nach dem Gesetz der waltenden Sonne zu leben und dabei fest in der Erdkraft zu wurzeln, in der die Kraft der vielen tausend Ahnen lebt.

Dies fest mit dem Boden verbundene Feldzeichen nannte man später den „Standhart“, das heißt „standfest“; und daraus ist unser Wort „Standarte“ gebildet. Es bezeichnet heute wie in der Vorzeit das Feldzeichen einer kriegerischen Truppe und ihres Führers und das Sinnbild einer unzerreißbaren Kampfgemeinschaft. Die stürmenden Einzelverbände aber, die sich mit Schwert und Lanze in die Scharen der Feinde stürzten, führten ein besonderes Feldzeichen, die Sturmfahne mit dem langen roten Flaggentuch. Auch sie stammt aus der germanischen Urzeit: Der Kriegsspeer Wodans ist ihr Urbild; zum Zeichen dessen, daß bei ihm, dem unerforschlich Waltenden, die Entscheidung stand, wurde an den Schaft ein rotes Tuch gebunden, das früher wohl einmal mit dem Blute der Krieger selbst getränkt war. Sie war das Zeichen, dass alle, die ihr folgten, sich dem Tode geweiht hatten und das Leben, wenn es ihnen erhalten blieb, als ein neues Geschenk des Walvaters entgegennahmen. Aber in dieser Todesbereitschaft lag für den kriegsbereiten Germanen die höchste Steigerung des Lebens. Im Liede von den todbereiten Nibelungen heißt es von Volker, den Fahnenträger der Burgunden: „Er band zu einem Schafte ein Zeichen, das war rot.“

Im alten Reiche war es das höchste Vorrecht des schwäbischen Heerhaufens, dem Reichsheere diese Sturmfahne voranzutragen, in der sich immer die todbereite deutsche Siegeszuversicht verkörpert hat. Immer und immer wieder musste die Sturmfahne unter dem Hügel ihrer erschlagenen Verteidiger hervorgezogen werden: ob es nun das Rabenbanner der Normannen war, die Sturmfahne der deutschen Ritterschaft, die Fahne der deutschen Landsknechte oder die Fahne preußischer und deutscher Bataillone. Wenn der Krieger in germanischer Zeit und heute noch seinen Treueid auf die Fahne leistet, so lebt darin der alte, erhabene Gedanke: In dem Feldzeichen lebt der Geist der Ahnen und ihrer kriegerischen Taten, in ihr lebt der Geist der kriegerischen Gemeinschaft selbst, der den Tod überdauert, denn „die Fahne ist mehr als der Tod“. Darum ist die mit Blute der erschlagenen Krieger getränkte Flagge für immer der mythische Sammelpunkt der lebendigen und der toten Krieger.

 

Quelle:

Arbeitskreis Deutsch Mythologie – Das Erbe der Ahnen